Der Blick hinunter ins Tal trügt nicht. Der Herbst kündigt sich an. Nebelschwaden umhüllen die Bergflanken. Es ist merklich kühler geworden. Die Früchte hängen prall und reif an den Bäumen, das Holz ist geschichtet, und bald sehnt man sich morgens wieder nach einem knisternden Scheit im Holzofen.
Was bleibt vom Bilderbuch-Sommer übrig? Da sind Erinnerungen an heisse Tage und an Tropennächte, an Reisen und an unvergessliche Touren. Die Welt wird jetzt wieder etwas kleiner und enger. Was bleibt, das sind die unbeschwerten Impressionen aus sommerlichen Tagen. Und häufig sind es die kleinen Dinge, die uns an die prächtigen Sommertage erinnern.
Ein grünes Blatt. Zahlreiche Dichter haben die so ganz besondere Sommerend-Stimmung in Texte gefasst. Auch wenn Naturdichtung heute etwas verpönt ist, tauchen just zum Ende des Sommers jene Zeilen aus meiner Erinnerung auf, welche von den Dichtern des Herbstes geprägt wurden. Dazu gehört eine Episode aus der Novelle „Ein grünes Blatt“ des norddeutschen Dichters Theodor Storm. Beim „Grünen Blatt“ handelt es sich um eine Rahmen-Erzählung. Es ist Krieg und zwei Soldaten kämpfen in einem Schützengraben. Der eine von ihnen, Gabriel, besitzt ein altes Buch, eine Art Album. Das seltsame Buch mit gelben Blättern macht ihre ganze Feldbibliothek aus. Dem Soldaten, der darin liest, fällt mit einem Mal ein eingelegtes Buchenblatt auf, das er bis jetzt immer übersehen hat. Daneben steht geschrieben:
Ein Blatt aus sommerlichen Tagen, / Ich nahm es so beim Wandern mit, / Auf dass es einst mir könne sagen, / Wie laut die Nachtigall geschlagen, / Wie grün der Wald, den ich durchschritt.
„Das Blatt ist braun geworden“, bemerkte der Freund. Der andere schüttelte nur den Kopf und sagte: „Lies nur die andere Seite.“
Wovon kann ein grünes Blatt erzählen? Der weitere Verlauf dieser Stormschen Novelle tut eigentlich nichts zur Sache. In Erinnerung geblieben ist mir der Fünfzeiler vom Blatt aus sommerlichen Tagen, das ich so beim Wandern mitnahm, auf dass es einst mir könne sagen, wie laut die Nachtigall geschlagen, und wie grün der Wald war, den ich durchschritt.
Kleine Andenken erhalten die Erinnerung. Von meinen sommerlichen Wanderungen und Reisen bringe ich seither regelmässig ein kleines Souvenir mit. Eine Muschel, ein Steinchen, ein Stück Rinde oder – ein grünes Blatt. Betrachte ich das sommerliche Kleinod dann in der kalten Winterszeit, erwacht ganz plötzlich die zauberhafte Sommerwelt wieder zu neuem Leben. Mein Kino im Kopf spielt dann einen Film, der mich an das Glück und die Wonne eines prächtigen Sommers erinnert. Es ist dies mein ganz persönlicher Film, schöner als jedes Selfie und besser als jedes Video auf meinem Handy.
Text und Foto: Kurt Schnidrig