Brig oder New York? Steht der grösste Tannenbaum auf dem Sebastiansplatz in Brig (Bild oben) oder vor dem Rockefeller Center in New York (Bild unten)? Die Briger Weihnachtstanne auf dem Stadtplatz hat sich dieses Jahr mächtig gestreckt. Sie soll die bisherigen Exemplare um mehr als zwei Meter überragen. Weniger gross und hoch ist der Weihnachtsbaum vor dem Rockefeller Center in New York, dafür ist die Tanne dort weltweit berühmt. Die Berühmtheit verdankt der New Yorker Tannenbaum vor allem der legendären und beeindruckenden Zeremonie auf dem Platz vor dem Rockefeller Center. Wenn nämlich die Lichter am Weihnachtsbaum eingeschaltet werden, dann beginnt die eigentliche Weihnachtszeit in New York. Im letzten Jahr wurde diese „Tree Lighting Ceremony“ durch Lady Gaga, Maria Carey, Tony Bennett und den Rockettes, einem zauberhaften Tanzensemble aus New York, spektakulär musikalisch und tänzerisch untermalt.
Bereits im Mittelalter, also vor etwa 500 Jahren, schmückten Menschen im Norden von Europa die Tannenbäume zur Weihnachtszeit mit Äpfeln und Nüssen. Damals allerdings war die Grösse und Höhe des Tannenbaums noch völlig unwichtig. Wichtiger war die Bedeutung des Weihnachtsbaums: Das Grün der Nadeln symbolisiert das Leben. Erst später, so im Verlauf des 19. Jahrhunderts, kamen Glaskugeln und Lametta hinzu. Der deutsche Professor Karl Follen soll den Brauch nach Nordamerika exportiert haben. In seiner neuen Heimat Cambridge an der Ostküste stellte Professor Follen als erster einen Weihnachtsbaum auf. Viele wohlhabende Amerikaner taten es ihm gleich, und so steht nun Jahr für Jahr ein riesiges Exemplar vor dem Rockefeller Center, einem Hochhaus in New York.
Den vielleicht ersten Weihnachtsbaum durfte ich im Weihnachtsmuseum im schleswig-holsteinischen Städtchen Husum ablichten. Hans Christian Andersen (1805-1875), der bekannte dänische Märchendichter, war ähnlich wie sein Zeitgenosse Theodor Storm ein begeisterter Freund des Weihnachtsfestes und gilt als einer der Väter der dänischen Weihnacht. Alles begann mit einem Tannenbaum bei seinem väterlichen Freund Professor Hans Christian Orsted, geschmückt nach schleswig-holsteinischer Tradition wie auf Gut Holsteinborg, wo Hans Christian Andersen selbst im Kreise der adligen Familie viele Jahre später einen Weihnachtsabend erlebte. Fasziniert von diesem mit roten Kerzen, goldenen Äpfeln und Nüssen sowie vielerlei selbst hergestelltem Papierschmuck gestalteten Tannenbaum, schrieb er für seine Landsleute das berühmte Märchen „Der Tannenbaum“. Tatsächlich ist es der Traum des Tannenbaums, endlich gross zu sein. Das Streben nach Grösse der Tannenbäume auf dem Briger Sebastiansplatz oder auf dem Platz vor dem New Yorker Rockefeller Center findet in diesem Märchen womöglich seinen Ursprung und seine Begründung.
Der Traum des Tannenbaums. Das Märchen von Hans Christian Andersen handelt vom Leben eines kleinen Tannenbaums und seinen Wünschen. Auf drei Etappen begleiten wir ihn in seinem kurzen Leben. Als kleiner Baum steht er im Wald, und es ist sein grösster Wunsch, endlich ganz gross zu sein. Um Weihnachten herum nimmt sein Leben eine dramatische Wendung. Er wird als Weihnachtsbaum auserkoren und gefällt. Das tut weh. Doch dann steht der Baum im Mittelpunkt des Weihnachtsabends. Doch bald schon ist die schöne Weihnachtszeit vorbei. Fortan fristet der Baum ein düsteres Dasein in einer dunklen Ecke des Dachbodens. Im Frühling holen die Menschen den Baum wieder ins Freie. Doch mittlerweile ist er alt geworden. Seine braunen Nadeln rieseln herunter. Noch einmal erinnert sich der Tannenbaum an die guten Zeiten. Aber es ist vorbei. Die Axt saust auf ihn nieder und zerhackt ihn in kleine Teile. Nüchtern und prosaisch heisst es zum Schluss, dass es nun mit dem Baum vorbei sei „und mit der Geschichte auch; vorbei, vorbei – und so geht es mit allen Geschichten!“
Im Märchen jagt der Tannenbaum einem Lebenstraum nach. Diesen Traum nach Grösse und Schönheit erreicht er aber nie. Der Baum muss schliesslich erkennen, dass er sein Leben verfehlt hat. Erst als er entsorgt wird, beginnt er zu verstehen, dass er das, was er hatte, nicht zu schätzen wusste. Sein Leben lang hatte sich die Tanne schnöden Träumen von Grösse und Schönheit hingegeben – anstatt klein und bescheiden ein zufriedenes Leben zu geniessen.
Der schnöde Traum von Grösse und Schönheit ist schnell vorbei. Auf dem Briger Sebastiansplatz genauso wie vor dem Rockefeller Center in New York. So enden leider alle Märchen, sowohl die Märchen aus dem Märchenbuch als auch die Märchen im wirklichen Leben. Um mit Hans Christian Andersen zu sprechen: „Vorbei, vorbei – und so geht es mit allen Geschichten!“
Text und Fotos: Kurt Schnidrig