Johann und Luise, die Protagonisten in Kurt Studers Roman „Verdammt, Verbannt“, tragen Züge von Romeo und Julia. Einer rigorosen Moral wegen und aufgrund von Familienzwistigkeiten erfüllt sich ihr Traum von ewiger Liebe nicht. Der grosse Altersunterschied und ein uneheliches Kind stehen dem Familienglück im Wege. Zum Schluss ist Luise verdammt zum Nichtstun und Johann verbannt aus dem Wallis. Beide sind ihrer gemeinsamen Zukunft beraubt. Sie konnten zusammen nicht kommen.
Im Wallis des frühen 20. Jahrhunderts. Eingebettet in die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse, wie sie sich vor hundert Jahren präsentierten, gerät die Familiensaga zu einem Sittengemälde des früheren Wallis. Johann und Luises tragische Liebesgeschichte spielt in Zeiten des grosses Aufbruchs des Wallis in die neue Zeit. Dieser Aufbruch begann bereits 1865 mit der Matterhornbesteigung, damals, als das Wallis die Touristenströme aus aller Welt anlockte, befördert zusätzlich durch den Tunneldurchstich von Simplon und Lötschberg. In dieser Zeit wandelte sich das Wallis vom armen Bergkanton zu einem Industrie- und Tourismuskanton. Besonders dem Ersten Weltkrieg kommt im Buch eine immense Bedeutung zu. Um lebendig schildern zu können, weicht in Studers Roman das auktoriale Erzählen je länger je mehr dem personalen Erzählen. Argumentativ holt der Autor Zeitzeugen in seine Geschichte, als Vermittlerin dient dabei oftmals die Zeitung, der Luise beispielsweise entnehmen kann, dass sich der Konflikt zwischen der österreichisch- ungarischen Monarchie und Serbien verhärtet hat (S. 50). Kurz darauf ordnet der Stadtweibel von Sitten auf der Place du Midi die Mobilmachung der gesamten Armee an (S. 52).
Ein romantischer Romananfang. Der 28-jährige Johann Schlegel aus Flums verliebt sich in die um 14 Jahre ältere Luise aus Sitten. Die Liebe kündigt sich an unter patriotischem Jubel. Mitten in den Jubiläums-Feierlichkeiten rund um den Beitritt des Wallis zur Eidgenossenschaft treffen sich Luise und Johann zum Tanze. Der Leser soll wissen: Es ist dies keine lapidare Liebesgeschichte, es geht um mehr, es geht um ein moralisches Sittenbild des früheren Wallis. Die erste Verliebtheit kündigt sich schüchtern an: „Mit seinen breiten Schultern, den muskulösen Armen und den hellwachen Augen war er ein attraktiver Mann“ (S. 140). Die junge Liebe trägt jedoch den Nimbus des Verhängnisvollen in sich: Luises Schwester spricht an, was nicht sein darf: Was sie da mit Johann treibe, sei ein gefährliches Spiel mit dem Feuer, der Altersunterschied zwischen Luise und Johann sei viel zu gross. Nach dem ersten Kuss schon gesteht Luise ihrem Johann unter Tränen: „Ich habe Sorgen, grosse Sorgen. Ich bin schwanger. Ich erwarte ein Kind von dir!“ (S. 183). Eine kurzfristige Heirat kommt jedoch nicht in Frage, da beide zu wenig Geld haben.
Verbannt und Verdammt. Die eigene Schwester ist es, welche die schwangere Luise „von ihrem Geliebten trennen und ins Niemandsland verbannen“ möchte. Sie begründet ihre Unmenschlichkeit damit, dass sie verhindern wolle, „dass sie von den Verwandten als Hure verspottet, gescholten und verdammt wird.“ (S. 202). Schliesslich ist es Johann, der die Versetzung seiner schwangeren Geliebten zu ihrer Schwester nach St. Niklaus als „Verbannung“ bezeichnet. Eine Verbannung deshalb, weil sie zum Schutze der Verwandten erfolgte, die dem „Gespött der Leute“ (S. 206) ausweichen wollten.
Das Motiv Traum. Mehrmals werden im Roman rätselhafte Träume geschildert, die widersprüchliche Deutungen zulassen. Dabei stellt sich die Frage, ob und in welcher Weise sich das Geträumte im Verlauf der Handlung erfüllen wird. Das Motiv „Traum“ erweist sich in Studers Roman als ein wichtiges Element, welches beim Leser Spannung aufbaut. Erste traumhafte Vorausdeutungen sind aus Leserperspektive noch irreführend und legen falsche Spuren. Sie gaukeln eine liebevolle Verbindung zwischen Johann und Luise vor. Johann erinnert sich beispielsweise an einen lieblichen Traum, den er im Park des Landesmuseums in Zürich gehabt hat, der Traum wiederholt sich mehrmals: Eine Frau erscheint ihm, „die ihn mit ihrem zarten, ebenmässig geformten Gesicht, den Grübchen um den Mund und den lebhaft tiefblauen Augen herzhaft anlächelte.“ (S. 127). Doch ist der Leser bei diesem Traumbild gewarnt, denn „das geheimnisvoll auf ihn wirkende Augenpaar“ (S. 128) ist mehrdeutig und unergründlich. Kurz vor der dramatischen Geburt, am Weihnachtstag des Jahres 1920, driftet das Träumerische ab ins Albtraumhafte: „Luise sieht im Traum Gestalten, die mit furchterregenden Hörnern auf sie zulaufen. Immer mehr von diesen Geistern drängen ins Zimmer und füllen es vom Boden bis zur Decke (…) Eines der Wesen bäumt sich vor ihr wie ein wild gewordener Hengst auf und gafft mit einem teuflischen Lachen auf sie herunter.“ (S. 291). „Du bist eine Hure und kommst direkt in die Hölle“, verkündet ihr eine dieser Gestalten (S. 292). Die Traumdeutung legt unmissverständlich nahe: Unbekannte Wesen werden ihr, Luise, das Kind wegnehmen.
Erfüllende Prophezeiung. Luises Albträume erfüllen sich auf schreckliche Art und Weise. Nach einer schwierigen Zeit der Verbannung nach St. Niklaus übersteht sie eine himmeltraurige Zangengeburt. Physisch und psychisch am Ende wird sie schliesslich stumm und dement. Ihre Schwester Josephine nimmt das Kind in ihre Obhut, jedoch nicht in Form einer Adoption, sondern als Schuldanerkennung des leiblichen Vaters Johann Schlegel. Johann soll für seinen Fehltritt „blechen“.
Wahrheit oder Fiktion? Die romanspezifische Fiktion kommt in „Verdammt, Verbannt“ reichlich zum Zuge, auch wenn mehr als die Hälfte des Erzählten die recherchierte und gesicherte Faktenlage ausmacht. Dennoch musste der Autor seiner eigenen Inspiration zusätzlich noch freien Lauf lassen. Er behalf sich mit autobiographischen Einsprengseln. Die Armut der Jungverheirateten Johann und Luise hatte der Autor – nach eigenen Worten – selber erlebt, damals, als er mit seiner Frau ohne ausreichende finanzielle Mittel in Locarno lebte.
Verarbeitung im Wohnmobil. „Ohne Tapetenwechsel hätte ich diese Geschichte gar nicht verarbeiten können“, verrät mir Kurt Studer. Es brauche immer wieder ein anderes Umfeld, es brauche den Austausch mit anderen Volksschichten, um immer wieder Inspirationen für das Schreiben holen zu können. Seine Frau sei „eine grossartige Leserin“, mit der er die Welt bereise. In den finnischen Wäldern habe er mit ihr tagelang über den Bauplan seines Romans diskutieren können. Daraus sei ein Konstrukt entstanden, das nach sechsjähriger Recherchearbeit endlich herangereift sei. Doch der Stoffplan sei schliesslich so umfangreich geworden, dass nun bereits ein zweiter Band zur Familiensaga rund um Johann und Luise in Arbeit sei.
Was nun? Ein zweiter Band dieser Familiensaga ist bereits geplant und in Arbeit. Was den Leser nun zum Weiterlesen in Band 2 animieren könnte sind auktoriale Einschübe wie dieser: „Sie hatten beide Träume gehabt – sie hatten sich Kinder gewünscht, hatten zusammen lachen, singen und fröhlich sein wollen, das Leben miteinander geniessen und einander lieben wollen – und nun sollte nichts daraus geworden sein?“ (S. 351).
Text und Foto: Kurt Schnidrig