Yuki, Frau des Lichts

Sie ist geheimnisvoll. Sie ist rätselhaft. Sie ist begehrenswert. Sie ist rein wie der Schnee. Sie zieht Männer in ihren Sog.  Das einzig Irdische an ihr scheinen die weiten Ärmel ihres Gewandes zu sein. Sie heisst Yuki. So sehr er sich zu Yuki hingezogen fühlte, so sehr hatte er plötzlich auch das Gefühl, dass ein Geheimnis diese Frau umgab und dass er im Begriff war, etwas Verbotenes, Gefährliches zu tun. Doch genau das erregte ihn auf sonderbare Weise… Diese Zeilen stammen aus der Japan-Geschichte „Kamikochi“, die der Oberwalliser Autor Nicolas Eyer an der Vernissage in Gamsen präsentierte (Bild).

Yuki ist eine Lichtfrau. Vielleicht ist sie aber auch ungewollt eine Femme fatale, welche die Männer um den Verstand bringt, vielleicht auch ganz auslöscht. Sie ist verheiratet mit einem Schweizer Lehrer, mit Fritz Kägi, der so spiessig ist wie sein Name tönt. Wer jemals selber Lehrer war, der würde bei der Figur Fritz Kägi eine weit verbreitete Lehrer-Krankheit diagnostizieren: Die Déformation professionnelle. Deutsch etwa: Berufliche Entstellung. Der Ausdruck Déformation professionnelle ist ein Wortspiel, das die Neigung bezeichnet, eine berufsbedingte Perspektive unbewusst über ihren Geltungsbereich hinaus anzuwenden. Auf fachfremde Themen oder Personen angewendet, kann dies zu einer eingeengten Sichtweise, zu Fehlurteilen oder zu sozial unangemessenem Verhalten führen. Wie bei Fritz Kägi. Fritz nimmt seine angetraute Yuki nicht mehr wahr. Fritz ist nicht mehr verliebt in Yuki, er ist verliebt in das Land seiner Sehnsucht, in das japanische Kulturgut, in die Tradition und in die Sagenwelt Japans.

Was Wunder, wenn Yuki dem erotischen Verlangen eines Reisenden nachgibt? Reiser heisst die Figur in der Geschichte. Reiser steigt im gleichen Hotel ab wie Yuki, mitten im japanischen Alpen-Tal Kamikochi. Und es ist Frühling. Und es ist Vorsaison. Und Yuki ist nicht von dieser Welt. Sie ist Yuki. Yuki heisst Schnee. Sie ist wie Schnee mitten im warmen Frühling. Scheu treffen sich Yuki und Reiser. Irgendwann essen Yuki und Reiser zusammen zu Abend. Während Yukis berufsbedingt deformierter Fritz irgendwelchen japanischen Sagenwesen nachspürt.

Fritz Kägi wird seine Yuki verlieren, er wird sie verlieren wie schmelzenden Schnee in der warmen Sonne des Frühlings. Denn Yuki heisst Schnee und die warme Sonne wird Reiser sein, dieser Glückliche. Für den aufmerksamen Leser ist bei Halbzeit die Geschichte gelaufen. Oder vielleicht doch nicht? Nicht in Japan, nicht bei diesem Autor, der in das Land verliebt ist wie Reiser in Yuki.

Die Geschichte beginnt zu kippen. Herr Nakamura ist den Kappas begegnet. Das sind Fabelwesen, schildkrötenartig, aber mit menschlichen Zügen. Sie leben im Wasser. Teiche sind den Japanern heilig. In ihnen schlummern Wesen, geheimnisvoll, rätselhaft, gefährlich. Wesen wie Yuki? Wesen, nicht von dieser Welt. Noch allerdings ist sie Yuki, die Lichtgestalt, die Reine. Yuki lädt Reiser zu einem Spaziergang ein. Während ihr Ehemann Fritz mit dem visionären Nakamura über eine zweifelhafte Sichtung von Kappas plaudert, spazieren Yuki und Reiser ins Glück. Es ist ein verbotenes Glück. Es ist ein gefährliches Glück. Ein Fest der Liebe. Yuki, nackt und weiss mit Reiser in einem dunklen Zimmer. Wie darf diese (Liebes-) Geschichte enden? Muss sie wirklich enden?

Der Tag „danach“ ist nie ein schöner Tag. Schlechtes Gewissen und Verzweiflung bei Yuki. Ihr Liebhaber, Reiser, ist leer und erfüllt zugleich. Eifersucht beim gehörnten Lehrer-Ehemann Fritz Kägi. Der Schluss ist rätselhaft und geheimnisvoll wie Yuki. Sie bleibt als romantische Verklärung zurück. Yuki, in ihrer weissen Bluse, die ihre Haut als schwache Ahnung durchscheinen lässt, in einem Buch lesend. Yuki heisst Schnee. Bald schon wird der Schnee auf den Gipfeln der Berge geschmolzen sein.

Zwei Männer und eine Frau. Plötzlich stehen die zwei Männer nebeneinander. Bei Einbruch der Dunkelheit werden sie immer noch nicht zurückgekehrt sein. Eine Erklärung für ihr Verschwinden gibt es nicht. Oder doch? Ein offener Schluss, der verschiedene Möglichkeiten zulässt. Yuki schweigt. Sie lehnt sich zurück, stützt sich auf die Ellbogen und schliesst die Augen.

Persönliche Nachschrift. Nun ganz nüchtern. Bei mir sind die oben beschriebenen Bilder während der Vernissage von „Kamikochi“ von Nicolas Eyer aufgetaucht. Es ist eine Erzählung, die ich nicht analysieren möchte. Für eine Literaturkritik und Erzählanalyse verweise ich auf das blitzgescheite Nachwort von Mario Andreotti, Lehrbeauftragter an der Universität St. Gallen. Er ist Spezialist für Strukturen der modernen Literatur. Natürlich, man kann „Kamikochi“ auch naturwissenschaftlich analysieren. Lehrbeauftragte müssen das so tun. Sie denken in Epochen, und ordnen epochenmässig zu, vergessen dabei, dass Epochendenken in der Literatur passé ist, wohl nie so stattgefunden hat. Und vergleichende Literaturwissenschaft? Eine subjektiv empfundene Geschichte aus Japan vergleichen mit Eichendorffs Novellen oder Kleists Schauspielen? Man kann das versuchen, aber es ist wohl doch nur „Studentenfutter“, gut geeignet als Prüfungsstoff. Und wer in „Kamikochi“ nach ausgeklügelten Techniken der modernen Erzählprosa sucht, der ist ein wenig wie die Figur Fritz Kägi. Eine weit verbreitete Lehrer-Krankheit ist die Déformation professionnelle.

Darum mein Ratschlag: Einfach nur wirken lassen. Sich in den Sog von Yuki ziehen lassen. Wer immer sie auch ist oder war. Jeder Mann kennt eine Yuki. Geheimnisvoll, rätselhaft, gefährlich. Jedem seine Yuki. Jedem und jeder seine / ihre Kamikochi-Geschichte. Egal, ob in einem Kurort in den Bergen Zentraljapans oder in einem Ort in den Walliser Alpen.

Text und Foto: Kurt Schnidrig

Literatur: Nicolas Eyer: Kamikochi. Eine Geschichte aus Japan. Edition Signathur. 93 Seiten. Im Buchhandel auf Bestellung. Im Internet bei Amazon.de und anderen Anbietern. Direkt bei Edition Signathur, Lehmwiesen 2, CH-8582 Dozwil, 071 411 00 91 / signathur@gmx.ch. Oder beim Autor: info@nicolaseyer.ch