Im Literaturkurs mit Donna Leon

Sie ist die Krimi-Lady unserer Tage. Im Gommer Dorf Ernen ist sie ebenso willkommen wie in der Lagunenstadt Venedig, wo alle ihre Geschichten sich abspielen. Donna Leon feiert in diesen Tagen ihren 75. Geburtstag. Seit mehr als 30 Jahren lässt sie sich vom morbiden Charakter Venedigs und von der romantischen Italianità  in den venezianischen Gassen inspirieren.  Geboren ist sie 1942 in New Jersey, bereits in den 60er-Jahren wandte sie der USA den Rücken zu und wanderte aus. Als Reiseleiterin arbeitete sie in Rom, als Werbetexterin in London und als Sprachlehrerin in der Schweiz, im Iran, in China und in Saudi-Arabien. Weil es in ihrer Lieblingsstadt Venedig zu viele Touristen hat, zog Donna Leon in ein Dorf in Graubünden, nahe der italienischen Grenze. Wir Oberwalliser kennen sie als Leiterin von Literaturkursen.

In Ernen erteilt Donna Leon gemeinsam mit Judith Flanders seit mehreren Jahren Literaturkurse. Die Kurse sind Teil des Festivals Musikdorf Ernen. Das Publikum schätzt die Leidenschaft, mit der die Krimi-Autorin die Schreibfreudigen motiviert und begeistert. Ihre Kurse sind umrahmt von Barockkonzerten, aufgelockert durch Wanderungen und sommerliche Apéros. Die Literaturliste wird jeweils bereits im Vorjahr erstellt. Dabei kommt nebst der modernen Literatur auch der eine oder andere literarische Klassiker zum Zuge.

Die Kursteilnehmer in Ernen haben sich unter der Leitung von Donna Leon mit den verschiedenen Ebenen der Sprache auseinanderzusetzen, mit der Erzählchronologie oder mit dem Schreiben aus verschiedenen Perspektiven heraus. Und Donna Leon doziert: Wer selber schreiben will, der muss zuerst richtig lesen lernen. Er muss einen Plot (Handlungsablauf, Handlungsstränge) entwirren und sortieren können. Das Schreiben von Romanen erfordert viel Hintergrundwissen, es müssen gesellschaftskritische Ansätze diskutiert werden, und es ist darauf zu achten, dass der kulturellen Vielfalt genügend Raum zugestanden wird. Insbesondere die Roman-Leserinnen reagieren sehr sensibel auf die Geschlechterdarstellung.

In Ernen können die Kursteilnehmer von einer geschickten Aufgabenteilung zwischen Donna Leon und Judith Flanders profitieren. Judith Flanders kommt eher vom Historischen her, sie achtet besonders auf geschichtliche und gesellschaftliche Anknüpfungspunkte, die das Setting und das Thema eines Romans mit beeinflussen. Donna Leon ihrerseits feilt eher an den literarischen Nuancen und an den jeweiligen Schreibstilen. Nebst all dem findet auch immer eine Prise amerikanischen oder britischen Humors Eingang in den Literaturkurs.

Wer Donna Leon schon mal während einem ihrer Literaturkurse in Ernen erlebt hat, der fragt sich: Hätte sie nicht auch das Rüstzeug für eine wundervolle Literaturprofessorin? Genau das war eigentlich der Traumberuf der jungen Donna Leon gewesen. Doch ein Zufall verhinderte ihre ursprüngliche Lebensplanung: Fünf Jahre soll sie im Iran in ihre Doktorarbeit investiert haben, dann jedoch ging die Arbeit im Chaos der iranischen Revolution unter. Donna Leon wird dies später als „göttliche Fügung“ bezeichnen. Hätte sie nämlich doktoriert, wäre sie wohl Professorin geworden und nicht Autorin. Dann wären der Welt die 26 venezianischen Krimis mit Commissario Guido Brunetti verloren gegangen.

Geboren ist die Figur des Commissario Guido Brunetti aus Donna Leons Liebe zur Oper und zu Venedig. Es wird erzählt, sie hätte sich während des Besuchs einer Probe im venezianischen Opernhaus gemeinsam mit ihrem Sitznachbarn mächtig über einen unmöglichen Dirigenten aufgeregt. Ihr Begleiter habe sich dabei ereifert: „Ich könnte den Dirigenten umbringen!“ Worauf Donna Leon geantwortet haben soll: „Ich mach das für dich, aber in einem Roman.“ Zusammen kundschafteten sie das Haus des Dirigenten aus, um mögliche Fluchtwege für einen Täter zu finden. Dies soll denn auch die Geburtsstunde für den Commissario Guido Brunetti gewesen sein. Es resultierte der erste Band der Brunetti-Reihe mit dem Titel „Venezianisches Finale“.

Mit ihren Krimis hat Donna Leon ein neues Genre geschaffen. Entgegen dem gewohnten Krimi-Schema „Mord – ermitteln – Täter überführen“ setzt Donna Leon andere Schwerpunkte. Nicht immer wird am Schluss der Geschichte das Böse überführt und nicht immer landet der Bösewicht hinter Gittern. Für Donna Leon ist das „Warum“ wichtig. Sie will wissen, was jemanden zur verbrecherischen Tat getrieben hat.

„Venezianisches Finale“ hiess Donna Leons erster Brunetti-Krimi. 26 weitere folgten seither, jedes Jahr ein neuer. An ihrem 75. Geburtstag kann Donna Leon auf ein veritables „Venezianisches Furioso“ zurückblicken.

Text und Foto: Kurt Schnidrig