Nobelpreis im Londoner Nebel

Ein Londoner erhält den Nobelpreis für Literatur. Der sprichwörtliche Nebel dieser Stadt ist für ihn symbolisch. Der grosse Nebel steht für das Vergessen und Verdrängen. Wer überleben will, der muss viele Dinge verdrängen und vergessen können. Alles, was wir vergessen und verdrängen, ist bildlich gesehen ein grosser Nebel oder ein begrabener Riese. Diese starken Bilder stammen von Kazuo Ishiguro. Er hat vor wenigen Minuten den Nobelpreis für Literatur erhalten.

Als ich kürzlich in London war (Bild), da fielen mir in einem Buchladen die Bücher von Kazuo Ishiguro in die Hände. Kazuo Ishiguro galt bisher in England lediglich als ein Geheimtipp. Auf die Bestsellerlisten schaffte er es vor allem dann, wenn er von Literatur-Jurys einen Preis zuerkannt bekam. Den renommierten Booker Prize zum Beispiel für „The Remains of the Day“. Oder wenn ihn die Queen zum Officer des Order of the British Empire ernannt hat. Persönlich gefielen mir seine starken Bilder und Metaphern, die bereits in den Titeln seiner Bücher auftauchen. „Der Maler der fliessenden Welt“ oder „Was vom Tage übrigblieb“ oder „Als wir Waisen waren“ oder eben „Der begrabene Riese“. Die Romane von Kazuo Ishiguro sind äusserst vieldeutig, man kann lesen und rätseln zugleich.

Immer wieder tauchen Metaphern wie „Nebel“ oder „Riese“ in seinen Werken auf. Wenn sich der Nebel lichtet, ist dies für die Protagonisten seiner Romane keineswegs ein Segen, vielmehr ist es ein Fluch. Der Blick wird frei auf eine Welt voller Grausamkeiten, Blutvergiessen und Schrecken. Der begrabene Riese ist eine seiner stärksten Metaphern. Sie steht für das verdrängte Blutvergiessen unserer Tage. Sollen wir Täter und Attentäter verfolgen und auslöschen? Oder sollen wir sie besser einfach vergessen und dann zur Tagesordnung übergehen? Es sind solche Fragestellungen, die Kazuo Ishiguro in seinen Romanen zu beantworten versucht.

Ist die Liebe stärker als der Tod? Dies ein weiteres grosses Thema im Schaffen von Kazuo Ishiguro. Um die erstaunliche Antwort gleich vorwegzunehmen: Der Tod ist stärker als die Liebe. Denn die Liebe verlangt nach ständigem Vergessen und nach immer neuen Lügen. In seinem Roman „Der begrabene Riese“ bringt Kazuo Ishiguro deshalb eine der schönsten und unvergesslichsten Todesszenen der Weltliteratur. Nein, die Liebe ist nicht stärker als der Tod, nicht bei Ishiguro.

Ishiguro ist gebürtiger Japaner, wohnte dort bis 1960. Bereits ab dem 5. Lebensjahr lebte die Familie jedoch im Vereinigten Königreich. Heute hat der Schriftsteller seinen Wohnsitz in London. Studiert hat er insbesondere die englische Sprache und die Philosophie. Durch einen „Creative Writing Course“ ist er zum Schreiben gekommen. Bekannt geworden ist er schon vor Jahren mit seinen Kurzgeschichten. Die japanischen Kriegs-Erlebnisse während des Zweiten Weltkriegs haben ihn und seine Geschichten geprägt. Später schrieb Ishiguro auch Fernsehdramen und Drehbücher.

Bei uns im deutschsprachigen Raum ist Ishiguro noch weitgehend unbekannt. Eine Auseinandersetzung mit seinen Werken ist lohnend und bereichernd. Seine Geschichten gehen oft in Richtung Fantasy, sie sind aber trotzdem historisch fundiert und zudem unterhaltsam zu lesen.

Text und Foto: Kurt Schnidrig