Tod im Abendrot

Manchmal ist es in der Literatur nicht so wie im Leben. Darüber denke ich nach, wenn ich an diesen traumhaft-schönen Herbstabenden ins Abendrot schaue. Im Leben, genauer in der Wetterkunde, gilt das Abendrot als ein Bote für Schönwetter. Bei Morgenrot jedoch droht Schlechtwetter. In der Literatur ist es genau umgekehrt. Seit der literarischen Romantik ist das Abendrot eine literarische Metapher für das Sterben und für den Tod.

Wie kommt Abendrot zustande? Zuerst die wissenschaftliche Erklärung: Bei niedrigem Sonnenstand ist der Weg des Sonnenlichts durch die Erdatmosphäre viel länger, dadurch wird ein grosser Teil der hochfrequenten Lichtanteile (blauen Sonnenteile) seitlich weggestreut. Übrig bleiben die langwelligen Lichtanteile (das Rotspektrum des Sonnenlichts), welche die Rotfärbung des Himmels bewirken. Das Abendrot gilt als Schönwetter-Bote, weil die Sonne die Wolken kurz nach Sonnenuntergang nur rötlich anstrahlen kann, wenn noch weiter westlich keine Wolken den Weg der Sonnenstrahlen blockieren.

In der Literatur steht das Abendrot für Sterben und Tod. Es ist die literarische Romantik um die Mitte des 19. Jahrhunderts, die aus dem Abendrot als Schönwetter-Bote ein todbringendes Abendrot gemacht hat. Vielleicht deshalb, weil die Romantik den schönen Momenten im Leben auch immer das Vergängliche angedichtet hat. Die Todessehnsucht zeigt sich dem Romantiker just dann, wenn alles so schön ist, so schön, wie ein rötlicher Abendhimmel.

Das Gedicht „Im Abendrot“ von Joseph von Eichendorff handelt von einem alten Paar, das dem Tod entgegengeht. Die Todessehnsucht des Paares spiegelt sich in der Ruhe und Harmonie des Gedichts wieder:

Wir sind durch Not und Freude / gegangen Hand in Hand, / vom Wandern ruhen wir beide / nun überm stillen Land. / Rings sich die Täler neigen, / es dunkelt schon die Luft. / Zwei Lerchen nur noch steigen / nachträumend in den Duft. / Tritt her und lass sie schwirren, / bald ist es Schlafenszeit./ Dass wir uns nicht verirren / in dieser Einsamkeit. / O weiter, stiller Friede! / So tief im Abendrot. / Wie sind wir wandermüde – / Ist dies etwa der Tod?

Die rhetorische Frage „Ist dies etwa der Tod?“ am Ende des Gedichts spiegelt die Ungewissheit des Paares über den Tod und über das, was danach sein soll. Somit hat das Gedicht ein offenes Ende. Obschon der Dichter das Abendrot zu einem Todesboten transformiert, gelingt es ihm, den Tod in einer ruhigen, harmonischen und tröstlichen Art zu beschreiben.

Text und Bild: Kurt Schnidrig