Nicht immer erreichbar

Kürzlich ist mir etwas Dummes passiert. Ich sitze im Restaurant in schöner Gesellschaft an einem Tischchen. Das Abendessen lässt auf sich warten. Mein Smartphone vibriert, ich hole es reflexartig aus der Tasche. Eine Bekannte schickt ein Foto, nein zwei, nein eine ganze Fotostrecke. Während ich die Fotos durchscrolle, kommt plötzlich ein neues Foto herein. Das Foto zeigt mich lesend im Lichte meines Smartphones. Das Foto stammt von der Dame, die vis a vis von mir sitzt, und die mit mir zusammen auf das Abendessen wartet. Peinlich berührt, lasse ich das Smartphone in meiner Tasche verschwinden, murmele ein „sorry“ und bin erleichtert, dass der Kellner mit dem feinen Abendessen an den Tisch tritt und unser beider Aufmerksamkeit auf sich lenkt. Einmal mehr wurde mir da bewusst: Die digitale Welt hat mich im Griff.

Wohin treibt uns die digitale Welt? Davon erzählt der Roman „Die Hochhausspringerin“ der Autorin Julia von Lucadou. Und Romane übertreiben häufig, besonders wenn sie thematisch auf verbrauchten und ausgeleierten Themen bauen, so wie die Digitalisierung eines ist. Die Autorin hat sich ein digitales System ausgedacht, das die totale Überwachung unserer Gesellschaft anstrebt. In dieser Gesellschaft finden sich Heiratswillige mit Hilfe von Algorithmen. Die Kinder besuchen zentrale Schulen, wo sie zu gleichgeschalteten Bürgerinnen und Bürgern herangezüchtet werden. Das Individuum darf sich keine eigenen Gedanken und Vorstellungen mehr erlauben. Auch persönliche Regungen, Gefühle und sogar Sexualkontakte werden vom System erfasst und analysiert, ausgewertet und sanktioniert.

Big Brother ist allgegenwärtig. Der Roman von Julia Lucadou geht noch weiter als der Klassiker „1984“ von George Orwell, der um 1948 entstand. In „Die Hochhausspringerin“ haben die Bürgerinnen und Bürger zu funktionieren. Wer nicht funktioniert, auf den wartet eine Hirnwäsche. Widerstand ist strikte verboten. Im Roman spielt die junge Frau Riva in diesem System der totalen Überwachung nicht mehr mit. Riva ist eine professionelle Sportlerin, die sich täglich im Flysuit kopfüber von Hochhäusern herab in Strassenschluchten stürzt. Erst kurz vor dem Aufprall wird sie vom Sprungseil wieder nach oben katapuliert. Das sogenannte „Skydiving“ hat Riva zum Superstar werden lassen. Doch dann weigert sich Riva plötzlich, weiter zu springen. Dies darf nicht sein, das System der totalen Überwachung hat Derartiges nicht vorgesehen. Vom System muss sich Riva deshalb einer persönlichen Überwachung unterziehen. Der widerspenstigen Riva wird eine einheimische Therapeutin namens Hitomi an die Seite gestellt.

Rettung naht.  Überall auf der Welt nimmt die totale Überwachung noch zu. Die Protagonistin Riva im Roman von Julia Lucadou erfährt dies am eigenen Leib. Überall, wo sie sich aufhält, sind Kameras und Mikrofone versteckt. Doch dann taucht ein Retter auf. Eingeschleust vom „System“, besteht seine Aufgabe zwar darin, Riva durch sanften Druck zum Einlenken und Mitmachen im „System“ zu überreden. Doch der Retter entwickelt eine Eigendynamik, er spielt das böse Spiel nicht länger mit. Unter anderem kreiert er Freiräume, die es ihm erlauben, vom System digital unerreichbar zu sein. er schlägt sich auf Rivas Seite. Kann ein einzelner etwas ausrichten gegen ein totales System der Überwachung? Die Autorin hat sich als Antwort auf diese Frage etwas ganz Besonderes einfallen lassen.

Die Autorin Julia von Lacadou stammt aus Heidelberg. Weil sie aber am Literaturinstitut Biel studiert hat, ist ihr Roman in der engeren Auswahl für den Schweizer Buchpreis. Eigentlich ist sie Filmwissenschaftlerin. Ihre multimedialen Erfahrungen bringt die Autorin gekonnt in ihren Roman ein. Die Autorin will mit ihrem Buch zeigen, dass die allgegenwärtige Abhängigkeit der Menschen von digitalen Geräten alles bei weiten übertrifft, was George Orwell in seinem Klassiker „1948“ bereits vor siebzig Jahren prophezeit hat.

Nicht immer erreichbar sein, das bedeutet frei sein. Es ist dies eine Freiheit, die sich jede und jeder Einzelne teuer erkaufen muss. Arbeitgeber, Firmen und Unternehmen erwarten heute von ihren Angestellten eine permanente Erreichbarkeit. Wer dagegen protestiert, der läuft Gefahr, als Querulant zu gelten. Und noch schlimmer: Wer es sich leistet, der globalen Digitalisierung entgegenzutreten und sich eigene Freiräume offenzuhalten, der wird als Teamplayer schon bald nicht mehr ernst genommen.

Text und Foto: Kurt Schnidrig