Wir alle sind so abnormal normal

Was ist normal? Normal ist, wenn man zuerst eine anständige Ausbildung oder Lehre macht. Wenn man danach einen Arbeitsplatz findet, und wenn man möglichst bald viel Geld verdient. Wenn man dann zu einem produktiven Mitglied der Gesellschaft wird. Wenn man standesgemäss heiratet, die Frauen spätestens im Alter von 28 Jahren. Wenn danach die Frau Kinder bekommt, um der Gesellschaft etwas zurückzugeben. Das alles ist normal. Das alles ist abnormal normal. So abnormal normal, dass die Menschen leiden. Sie leiden abnormal stark an Überarbeitung. Sie heiraten abnormal weniger, so dass die Geburtenrate abnormal stark sinkt. Alles ist so abnormal normal, dass die Menschen mit akuter sozialer Vereinsamung zu kämpfen haben.  Darüber kann man ein Büchlein schreiben mit 146 Seiten. Und dann ist man eine Bestseller-Autorin. Eine junge Japanerin hat das getan. Sie hat über das Normale geschrieben, und sie heimst damit abnormal viel Erfolg ein.

Der Roman heisst „Die Ladenhüterin“. Geschrieben hat ihn eine 38-jährige Japanerin. Sie heisst Sayaka Murata, und sie räumt mit ihrem Büchlein alle renommierten Literaturpreise ab. Die Protagonistin im Roman ist die 36-jährige Keiko. Sie arbeitet seit 19 Jahren als Aushilfe in einem 24-Stunden-Supermarkt. Derartige Supermärkte heissen in Japan Konbini. Der Konbini ist Keikos Leben. Keiko hat keine anderen Wünsche und Träume in ihrem Leben, als jeden Tag im Konbini die Regale von neuem aufzufüllen. Selbstverständlich bezieht Keiko auch alles, was sie zum Essen braucht, aus dem Konbini. So wie die Kaffeemaschine oder so wie die Aufschnittmaschine, so ist auch Keiko ein Teil des Supermarkts geworden. Und was macht Keiko nach Feierabend? Sie regeneriert ihre Arbeitskraft für den Supermarkt. Und das Wichtigste: Keiko ist glücklich und zufrieden.

Die Gesellschaft diktiert Normen und Konventionen. Das ist nicht nur in Japan so. Und wehe, wenn sich ein Bürger oder eine Bürgerin diesen Normen und Konventionen widersetzt. Er oder sie würde dann als abnormal gelten. Sind aber Menschen nicht gerade deshalb abnormal, weil sie denken, sie seien normal? In ihrem Buch erklärt die Autorin den Widerspruch: Wenn Menschen denken, sie selbst seien normal, dann würden sie bloss aus der eigenen Ich-Perspektive heraus denken. Sobald man einen „normalen“ Menschen von einer Aussenperspektive beobachte, würde dieser als verrückt und abnormal erscheinen, weiss die Autorin.

Hikikomori heisst Einsamkeit. Hikikomori ist eine akute Form von sozialer Vereinsamung. Wer von Hikikomori betroffen ist, der verlässt seine Wohnung monatelang nicht. Wer an Hikikomori erkrankt ist, der ist auf Hilfe angewiesen. Hikokomori entsteht dann, wenn jemand allzu normal lebt. Wenn das Leben keine „Challenge“ mehr ist. Wenn ein Mensch zu einem „couch potatoe“ mutiert. Die Krankheit könnte sich in den nächsten Jahren noch verschärfen. Ganz Japan spricht vom „Problem 2030“, und die Japaner meinen damit, dass spätestens bis dann viele Eltern sterben werden. Spätestens dann muss Japans Gesellschaft eine befriedigende Lösung finden. Und nicht nur Japans Gesellschaft. Wohl auch unsere Gesellschaft.

Der gesellschaftliche Druck, normal zu sein, verbiegt die Menschen, macht aus ihnen Alltags-Roboter. Der gesellschaftliche Druck zur Normalität beraubt das Individuum der Freiheit und der Kreativität. Gelten vielleicht gerade deshalb Künstler, Kulturschaffende und insbesondere Literaten als verschroben, verrückt, oder eben als abnormal? Es sei denn, Literaten wie Sayaka Murata schreiben ein 146-seitiges Büchlein über das so ganz Normale im Leben. Dass nur schon das Schreiben über das Normale zu einem Bestseller wird, das wiederum ist das Abnormale.

Text und Foto (Symbolbild): Kurt Schnidrig.