Bernhard Schlink: Abschiednehmen und Loslassen

Mit neun Geschichten über Verlust und Trennung verabschiedet sich Bernhard Schlink mit dem Alterswerk „Abschiedsfarben“. (Symbolbild: Kurt Schnidrig)

Sein verfilmter Roman „Der Vorleser“ gehört heute zur Schullektüre. Bernhard Schlinks Roman wurde in über 50 Sprachen übersetzt, die amerikanische Ausgabe erreichte Platz 1 der Bestsellerliste der New York Times. Sein Bestseller aus dem Jahr 1995 über die erste Liebe eines Schülers zu einer erwachsenen Frau, die Jahre später als KZ-Wärterin vor Gericht steht, machte bereits deutlich, dass der Beruf des Schriftstellers lediglich Schlinks Zweitberuf ist. Bernhard Schlink war Jurist und Professor für Öffentliches Recht an der Universität Bonn. Die Juristerei färbte ab auf sein Schreiben. In „Abschiedsfarben“, dem aktuellen Erzählband, versammelt er Geschichten über Verlust, Trennung und Abschied. Ist „Abschiedsfarben“ das Alterswerk und vielleicht sogar der eigene Abschied Bernhard Schlinks als Schriftsteller?

In „Abschiedsfarben“ geht es um die Rückschau älterer Menschen auf ihr Leben. Und es geht um die Überprüfung eigener Lebensansichten und Lebenseinsichten. Die neun Geschichten im aktuellen Erzählband könnten Rechtsfälle aus dem Gerichtssaal sein. Sie spielen im Spannungsfeld zwischen moralischer und politischer Schuld. Immer aber versteckt sich der Jurist Schlink geschickt hinter dem Schriftsteller Schlink: Niemals klagt er an, niemals verteidigt er, das Urteil überlässt er seinen Leserinnen und Lesern.

„Ich schreibe aus demselben Grund, aus dem andere lesen: Man will nicht nur ein Leben leben.“

Bernhard Schlink, Jurist und Schriftsteller

Erinnerungen an den Bestseller „Der Vorleser“ werden wach in der Geschichte über ehemalige DDR-Freunde. Wieder geschieht ein Verrat durch Verschweigen, und wieder handelt die Geschichte von dessen juristischer Aufarbeitung. Und wieder geht es um die Bewältigung einer unrühmlichen und kriegerischen deutschen Vergangenheit. Die längste Geschichte im neuen Erzählband trägt den Titel „Geschwistermusik“. Es ist dies wohl die persönlichste Geschichte des Autors, in der er auch viel über seine eigene Arbeit verrät. Wie viel an Persönlichem in Schlinks Geschichten steckt, kann allerdings nur erahnt werden, es lässt sich vortrefflich darüber spekulieren. Dies ist dann etwa der Fall, wenn die Geschichten den innerdeutschen Rahmen sprengen und sich die Schauplätze bis nach Übersee, bis in die USA, erstrecken. Schlink lebt heute teils in New York. Vom amerikanischen Showgeschäft hat er sich tatsächlich einiges für seine Schriftstellerei abgeschaut.

„Ich fand immer die Vorstellung schön, dass mein Buch an der Bahnhofsbuchhandlung gekauft, auf die Reise mitgenommen und im Zug gelesen wird.“

Bernhard Schlink, deutscher Erfolgsautor auf der Bestsellerliste der „New York Times“

Die Effizienz amerikanischer Kurzgeschichten hat Bernhard Schlink geschickt in seine Erzählbände einfliessen lassen. Dies war bereits in „Sommerlügen“ festzustellen und nun auch im aktuellen Erzählband „Abschiedsfarben“. Gekonnt handhabt Schlink die Informationsvergabe, so dass bereits nach wenigen Seiten Detailspannung aufkommt. Eine ältere Frau und ein in die Jahre gekommener Mann treffen sich nach Jahren in einem Konzert der Philharmonie. Warum nur hatten die beiden in ihrer Jugend nicht zusammenkommen und glücklich werden können? Die Finalspannung der Geschichte verliert an Bedeutung. Schlink legt gekonnt falsche Fährten. Eine Frau wird auf der Strasse erstochen, ein Professor pflegte ein sonderbares Verhältnis zu ihr. Hatte auch er ein Mordmotiv? Schlink fordert seine Leser*innen zum Mitdenken und Miträtseln auf. Lösungen präsentiert er kaum. Wie in einem Gerichtssaal die Plädoyers von Anklage und Verteidigung im Zentrum stehen, so funktionieren auch Schlinks Geschichten wie „Fälle“. Den Richterspruch überlässt Schlink schlussendlich seinen Leser*innen, und es ist unerheblich, auf wessen Seite sich die Leserschaft schlägt.

Abschied, Verlust und Trennung in Geschichten verpacken, das erfordert viel Fingerspitzengefühl. Manchmal drohen die Geschichten ins allzu Dramatische oder ins allzu Romantische abzudriften. Dann etwa, wenn ein älterer Professor am Mädchen Anna nur „blonde Locken, rote Wangen, Lebenslust und Neugier“ sieht und später an ihrem „unvergleichlichen, unwiederbringlichen Mädchenduft nach Kind und Frau und frischen Früchten“ riecht, dessen „Versprechen einen um den Verstand bringt“.

Die Hoffnung stirbt zuletzt. Der Erzählband „Abschiedsfarben“ enthält lauter Abgesänge. Ein Sterbenskranker möchte noch ein letztes Mal seine erste Frau sprechen, traut sich aber nicht. Ein Mann steht am Grab seines älteren Bruders, der sich zusammen mit seiner kranken Frau das Leben genommen hat. Aber es geht in allen diesen Geschichten auch um Erwartungen und Hoffnungen. Ein 70-Jähriger sucht noch einmal nach seiner ersten grossen Liebe, nachdem er die Diagnose „Altersdepression“ erhalten hat. Man muss sich trennen, man muss loslassen können. Die Hoffnung aber, die stirbt zuletzt.

Hören Sie den Podcast aus der Sendung Literaturwelle zu „Abschiedsfarben“ von Bernhard Schlink. (Quelle: rro / Kurt Schnidrig / Yannick Zenhäusern)

Text, Foto und Radiosendung: Kurt Schnidrig