Mattmark Memorial: Was geschah vor 55 Jahren?

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Vor Wochenfrist am Halbmarathon „Mattmark Memorial“: Was geschah wirklich im Jahr 1965? (Bild: Mattmark Memorial)

Der Halbmarathon „Mattmark Memorial“ erinnert an eine fürchterliche Katastrophe, die sich vor 55 Jahren zuhinterst im Saastal ereignet hat. Zur Erinnerung liefen vor Wochenfrist rund 500 Läuferinnen und Läufer die 21 Kilometer inmitten einer grandiosen Landschaft. Nach dem Start in Saas-Balen führten die ersten nur leicht ansteigenden 10 Kilometer bis zuhinterst ins Saastal, dann folgte der überaus steile Aufstieg zur Staumauer, bevor schliesslich die Runde um den Mattmark-Stausee bis hin zum Ziel beim Restaurant Mattmark mit einem zauberhaften Panorama für den geleisteten Effort belohnte. Woran aber erinnerte das „Mattmark Memorial 1965“?

Am Nachmittag des 30. August 1965 zuhinterst im Saastal. Auf der Baustelle des grössten Erddamms Europas auf 2197 Metern über Meer halten sich viele Arbeiter in ihren Unterkünften auf. Es ist kurz vor dem Schichtwechsel. Um 17.15 Uhr bricht 600 Meter über ihnen die Zunge des Allalingletschers ab. In nur gerade 30 Sekunden krachen zwei Millionen Kubikmeter Eis und Geröll auf die Wohn- und Arbeitsbaracken. Dies entspricht dem Volumen von 5000 Einfamilienhäusern. Die Menschen in den Unterkünften haben keine Chance.

„Es war wie eine Explosion, wie ein Dammbruch. Das Eis wogte wie eine riesige Suppe den Berg hinunter.“

Ein Augenzeuge im Buch „Mattmark. 30. August 1965“.

Der Eiskegel türmt sich stellenweise bis zu 50 Meter hoch über den Verschütteten. Die Bergungsarbeiten gestalten sich überaus schwierig. Es dauert mehr als sechs Monate, bis die letzte Leiche geborgen werden kann. Die Bilanz des Unglücks ist schrecklich: 88 Tote und 5 Verletzte. 56 Tote stammen aus Italien, 23 aus der Schweiz, 4 aus Spanien und 5 aus anderen Nationen. Das jüngste Opfer ist gerade mal 17-jährig, das älteste 70 Jahre alt. Sie hinterlassen 80 Waisen.

Eine weltweite Welle der Solidarität erreicht das Saastal. Regierungen aus aller Welt und auch der Papst senden Beileidskundgebungen. In der Schweiz sammelt die Glückskette 2,3 Millionen Franken für die Hinterbliebenen.

„Zum ersten Mal erhielten Migranten den Status menschlicher Wesen, die Mitgefühl und Wiedergutmachung verdienen.“

Aus einer Studie der Universität Genf

Das „Gespenst der Überfremdung“, das damals landesweit umging, wurde durch die Katastrophe in die Schranken gewiesen. Mitte der Sechzigerjahre hatte die Schweiz eine Hochkonjunktur erlebt wie kaum je in ihrer Geschichte. Die Hochkonjunktur bescherte dem Land aber auch die höchste Zuwanderung in ihrer Geschichte. Dabei machten die Italiener zeitweise mehr als die Hälfte aller Ausländer aus. So geschätzt die Ausländer zur Etablierung des Wohlstands in der Schweiz waren, so unheimlich erschienen die „Fremdarbeiter“ vielen Schweizerinnen und Schweizern im Alltag. Selbst grosse Schriftsteller wie Max Frisch schürten die Angst vor den fremden Arbeitern.

„Es sind einfach zu viele, nicht auf der Baustelle und nicht in der Fabrik und nicht im Stall und nicht in der Küche, aber am Feierabend, vor allem am Sonntag sind es plötzlich zu viele. Sie fallen nicht auf. Sie sind anders.“

Max Frisch, 1965

Die italienische Presse stellte die aufkeimende Fremdenfeindlichkeit in der Schweiz in Zusammenhang mit der Mattmark-Tragödie. Sie monierte, dass die Arbeitsbedingungen für die „Fremdarbeiter“ in der Schweiz katastrophal seien. Bundesrat und Parlament bemühten sich um Schadensbegrenzung. Sie versuchten die Mattmark-Tragödie als „reine Naturkatastrophe“ herunterzuspielen. Das nahm die Weltöffentlichkeit den Schweizer Politikern jedoch nicht ab. Zu viele Fehler wurden zuhinterst im Saastal begangen. Weshalb waren die Baracken direkt in der Falllinie des Gletschers errichtet worden?

Im Buch „Mattmark, 30. August 1965“ beleuchten die drei Soziologen Sandro Cattacin, Rémi Baudouï und Toni Ricciardi die Geschehnisse aus der Sicht von Fachleuten. Der Allalingletscher galt nach den Worten des Glaziologen Jürg Alean geradezu als „notorischer Missetäter“. Mehrmals wurde die Bevölkerung des Saastals seit dem 17. Jahrhundert wegen drohender Eisabbrüche zum Auswandern gezwungen. Noch 1949, fünf Jahre vor Beginn der Projektierung der Mattmark-Staumauer, war erneut eine Eislawine zu Tale gedonnert.

„Unter einem solchen Damoklesschwert darf man nicht bauen.“

Nicolas Oulianoff, Geologe aus Lausanne in einer Warnung aus dem Jahr 1954

Ein internationales Expertenteam kam damals zum Schluss, dass den Verantwortlichen zahlreiche Hinweise auf die Gefährlichkeit des Gletschers vorlagen. Zudem hatte man es verpasst, ein funktionierendes Kontroll- und Alarmsystem einzurichten. Ein Gericht trat sieben Jahre nach der Katastrophe in Visp zusammen. Das Gericht kam zu einem Urteil, das für Aussenstehende bis heute unverständlich ist: Alle 17 Angeklagten, darunter Ingenieure und Direktoren der Elektrowatt und zwei SUVA-Beamte, wurden freigesprochen.

Entsetzen und Empörung löste das Urteil des Visper Gerichts bei den Angehörigen der Opfer aus. Demonstrationen fanden vielerorts in der Schweiz statt. Die Demonstranten forderten Gerechtigkeit für die Arbeiter von Mattmark. Trotzdem bestätigte das Kantonsgericht in Sitten später das Urteil und den Freispruch für die Verantwortlichen.

„Ein Alarm hätte noch wenige Minuten, ja selbst eine Minute vor der Katastrophe noch viel Unglück verhindern können.“

Expertenbericht aus dem Jahr 1967

Entsetzen löste der Prozess bei den italienischen Klägerfamilien aus. Zu allem Leid und zu aller Trauer über die erlittenen Verluste ihrer Angehörigen, wurde ihnen die Hälfte der Prozesskosten auferlegt.

Mattmark nie vergessen. „Das Bild einer hartherzigen, selbstgerechten Schweiz ging um die Welt“, schrieb die Gewerkschaft Unia in einem Buch, das im Jahr 2005 erschienen ist. Das Buch heisst: „Mattmark nie vergessen“. Dies ist mit ein Grund, weshalb 500 Läuferinnen und Läufer vor Wochenfrist zum „Mattmark Memorial 1965“ über 21 Kilometer von Saas-Balen hinauf zur Mattmark-Staumauer gestartet sind. Ob all der Tragik, die mir beim Lauf durchs Saastal und beim Erreichen des Ziels hoch oben auf der Mattmark-Staumauer erst so richtig bewusst wurde, verliert sowohl die persönliche Bestzeit als auch die Siegerzeit jegliche Bedeutung.

Text und Bild: Kurt Schnidrig