Welche Farbe hat der Frühling?

Die graue Stadt am grauen Meer zur Winterszeit… (Bild: Kurt Schnidrig)

Zur Winterszeit besuchte ich die graue Stadt Husum an der Nordsee. Der norddeutsche Dichter Theodor Storm hat hier gelebt und seine Heimatstadt unzählige Male besungen. Melancholisch und mystisch hat er sie eingebettet zwischen grauem Strand und grauem Meer. Landschaften können sich je nach Witterung plötzlich ganz anders präsentieren. Die graue Stadt am grauen Meer kann urplötzlich in ein einladendes Grün unter verheissungsvollem blauem Himmel getaucht sein. Mit dem Gedicht von der grauen Stadt am grauen Meer hat der Dichter eine Simplizität aufgebrochen, denn nicht immer sind Himmel und Meer blau, nicht immer sind Sonne und Sand gelb. Der Frühling ist es, der nach den grauen Wintertagen die Farben in die Städte zurückbringt. Die farbige Botschaft des Frühlings haben die Menschen im Städtchen Husum an der Nordsee an eine Hauswand gemalt.

Von Menschenhand koloriert: Die bunte Stadt am blauen Meer zur Frühlingszeit (Foto: Kurt Schnidrig)

Mit der Farbgestaltung wird immer auch eine ganz bestimmte Stimmung mitgeliefert. Die Farbsemantik hat auch in literarischen Erzählungen oftmals eine verstärkende oder gar vorausdeutende Funktion. Gefährdungen und drohendes Unheil künden sich mit grauen Regen- und Sturmtagen an. Freudige und hoffnungsvolle Ereignisse ereignen sich inmitten von grünen Wiesen und Wäldern. Ein verheissungsvolles „Happy End“ liegt oftmals in blauer Ferne. Farben sind auch Botschafterinnen des Spektrums menschlicher Gefühle.

Im Coverdesign hat sich die Buch-Branche diese Erkenntnis zunutze gemacht. Wer ein Buch schreibt, setzt sich auf dem Markt einem enormen Wettbewerb und Konkurrenzdruck aus. Im Literaturbetrieb haben sich visuelle Muster und Stereotypen herausgebildet, die den potenziellen Leser*innen ein bestimmtes Genre vermitteln sollen. Wie die Zürcher Grafikdesignerin, Dozentin und Autorin Agnès Laube herausgefunden hat, sind die Covers von Krimis gerne in den Farben Schwarz, Rot und Gelb gehalten. Und eine junge Frau in einem langen, lilafarbenen Kleid deutet auf eine romantische Liebesgeschichte hin. Interessant zu wissen: Da 70 Prozent der Lesenden weiblich sind, ist insbesondere der Buchmarkt für Jugendliche stark auf Mädchen ausgerichtet. Dies hat Coverdesigns zur Folge, die Jungs nicht ansprechen. Diese laufen in einem bestimmten Alter ungern mit einem rosafarbenen oder pastellblauen Einband herum, wie Laube schreibt. (Agnès Laube: Coverdesign – Gestaltung als Ausschlusskriterium? In: Buch und Maus. Zeitschrift des Schweizerischen Instituts für Kinder- und Jugendmedien 01/21).

Welche Farbe hat der Frühling? Werfen Sie, liebe Leserin, lieber Leser, in diesem Frühling einen Blick in die Schaufenster der Kleidergeschäfte! Sie werden unschwer feststellen: Der Frühling wird blau! Die Modebranche und die Literatur sind sich im Frühjahr zufällig einig. Wir alle kennen das Frühlingsgedicht von Eduard Mörike: „Frühling lässt sein blaues Band, wieder flattern durch die Lüfte…“ Das Gedicht ist ein Steilpass für die Modebranche.

Die Suche nach der seltenen blauen Blume hat in der Literatur eine symbolische Bedeutung. (Bild: Kurt Schnidrig)

Die blaue Blume. Die blaue Farbe in Gestalt einer blauen Blume ist ein zentrales Symbol der literarischen Romantik. Sie steht für Sehnsucht und Liebe und für das Streben nach dem Unendlichen. Die blaue Blume ist in der Literatur auch ein Sinnbild der Sehnsucht nach der Ferne und ein Symbol der Wanderschaft. Die blaue Farbe steht stellvertretend für die romantische Sehnsucht nach dem Unerreichbaren. Das Motiv der blauen Blume (Farbe) geht zurück auf den deutschen Dichter Novalis. In seinem Roman „Heinrich von Ofterdingen“ wird Heinrich, der Protagonist des Werkes, von einer blauen Blume magisch angezogen, woraus sich in der Folge das Sehnsuchts-Symbol der Romantik ableitete. Auch heute noch machen wir „eine Fahrt ins Blaue“, oder, wenn uns alles zu viel wird, dann machen wir einfach mal „blau“. (Aus: Kurt Schnidrig: „Ein Leuchtturm in der Finsternis. Spurensuche, Begegnungen, Betrachtungen“, S. 350f.)

Text und Bilder: Kurt Schnidrig