Beste Darstellerin in einer Literaturverfilmung

Sarah Pale als drogensüchtige Mutter in der Literaturverfilmung „Platzspitzbaby“ ist „Beste Darstellerin“. (Foto: Kurt Schnidrig)

Die Schweizer Filmpreise 2021 sind in der vergangenen Freitagnacht vergeben worden. Die Auszeichnung „Beste Darstellerin“ ging an Sarah Pale, die in der Literaturverfilmung „Platzspitzbaby“ eine drogensüchtige Mutter mimt. Hätte das Publikum entscheiden können, wäre „Platzspitzbaby“ wohl auch noch in anderen Sparten der „Abräumer“ des Abends gewesen. So aber schwang der von der Filmkritik hochgelobte Film „Schwesterlein“ obenaus. Das Krebsdrama der Westschweizer Regisseurinnen Veronique Reymond und Stephanie Chuat gewann in der Königskategorie „Bester Spielfilm“ und wurde zusätzlich auch für die beste Montage, die beste Kamera, die beste Nebendarstellerin und das beste Drehbuch prämiert.

Nach der Schliessung des Zürcher Drogenplatzes „Platzspitz“. Die Literaturverfilmung „Platzspitzbaby“ befasst sich mit der Drogenszene, die nach der Schliessung des Zürcher Drogenplatzes „Platzspitz“ überall in der Schweiz entstand. Der Film berührt und bewegt vor allem aufgrund der schonungslosen und teils hoch emotionalen Szenen.

Ein Mutter-Tochter-Drama. „Platzspitzbaby“ fokussiert auf eine drogensüchtige Mutter, im Film heisst sie Sandrine, und auf ihr 11-jähriges Mädchen mit dem Namen Mia. Die Tochter Mia kämpft um die Liebe ihrer Mutter, immer wieder wartet sie im Auto, bis Mama Sandrine, vollgepumpt mit Drogen, zurückkommt. Täglich sucht Mia unter den abgewrackten Junkies nach ihrer Mutter. Gerne möchte das Kind seine Mutter aus dem Drogensumpf befreien, doch immer wieder scheitert Mia an der unbezwingbaren Sucht ihrer Mutter. Schliesslich geht das Kind aus Liebe zu seiner Mutter grösste Risiken ein, um sie mit Drogen versorgen zu können.

„Platzspitzbaby“ – eine Literaturverfilmung. Der Film basiert auf dem gleichnamigen Buch von Michelle Halbheer, das 2013 im Verlag wörterseh erschienen ist. Das Buch gibt sicherlich mehr her, was den psychologischen Hintergrund angeht. Auch zum Verständnis der komplexen Drogenszene trägt das Buch mehr bei. Im Buch erzählt Michelle Halbheer ihre eigene Geschichte als „das Platzspitzbaby“ autobiographisch und als Ich-Erzählerin. Was mir an diesem Buch besonders wichtig erscheint: Es wird aus mehreren Perspektiven erzählt. Da kommt zum Beispiel auch mal Mias Lehrer zu Wort, auch er als authentischer Ich-Erzähler. Er schildert Mias Geschichte aus der Sicht des Pädagogen. Er erzählt etwa, wie das Drogen-Kind besonders im Schultheater sich immer wieder hat neu motivieren können für ein Leben an der Seite einer drogenabhängigen Mutter. Diese literarische Technik erlaubt es dem Leser, auch Mias Kindheitsgeschichte mit einzubeziehen. Dadurch wird dem Lesepublikum ermöglicht, Mias Entwicklung zu einem Kind, das mit seinem Verhalten auffällt, nachvollziehen zu können. Demgegenüber fokussiert der Film ausschliesslich auf die problematische Mutter-Tochter-Beziehung.

Die Kraft der filmischen Bilder. Mit oftmals nur ganz wenigen Bildern schafft es Regisseur Pierre Monnard, die Brutalität und die Unmenschlichkeit des Drogen-Milieus offenzulegen: Da sticht ein kleines Mädchen seiner Spielzeug-Puppe die Augen aus, damit die Puppe die schrecklichen Junkie-Bilder zu Hause nicht mehr „ansehen“ muss. Und es treibt dem Zuschauer die Tränen in die Augen, wenn die Mutter auf offener Strasse ihrer Tochter den heiss geliebten kleinen Hund entreisst, um ihn in einem schmuddeligen Drogenladen zu Geld zu machen. Und all dies bloss, um sich ein kleines Briefchen von diesem weissen Pulver kaufen zu können! Als Zuschauer überkommt einen selber eine todtraurige Stimmung, dann etwa, wenn sich Mia wegträumt auf eine friedliche Insel, auf die Malediven oder anderswohin. In Mias Traumwelt erhält sie auch regelmässig Besuch von einem imaginären Freund, der ihr aber letztlich auch nicht zu Hilfe eilen kann. Mit solchen Szenen verfügt der Film über eine starke Ausdruckskraft, stärker noch als das Buch.

Happige Kritik an der Gesellschaft. Nach der Schliessung des grössten europäischen Drogenumschlag-Platzes, dem Zürcher Platzspitz, verlagert sich die Drogenszene aufs Land und in die Dörfer. Mias Eltern trennen sich. Mia zieht mit ihrer Mutter Sandrine in ein kleines Dorf im Zürcher Oberland. Doch auch hier gibt es für Mutter Sandrine kaum je abstinente Tage. Sie fällt erneut der einheimischen Drogenszene zum Opfer. Im Film ist diese Zeit charakterisiert durch schockierende Szenen, die auch eine wachsende Kritik gegenüber der Untätigkeit der Behörden aufkommen lässt.

Lebensgefährliche Theorien von Fachleuten. Was Film und Buch gleichermassen thematisieren: Auch heute noch sprechen „progressive Fachleute“ davon, dass Kinder für ihre Junkie-Eltern eine grosse Chance seien. Kinder könnten die Therapiewilligkeit von Heroin-Konsumenten markant steigern, wird behauptet. Diese Ansicht ist nicht nur falsch, sie ist auch lebensgefährlich für die betroffenen Kinder. Derartige Theorien haben vielen Kindern – wie Mia im Film oder wie Michelle im Buch – beinahe das Leben gekostet.

Text und Bild: Kurt Schnidrig