Simone Meiers Roman „Reiz“

Im Roman „Reiz“ verarbeitet die Journalistin Simone Meier persönliche Erfahrungen. (Symbolbild: Kurt Schnidrig)

Simone Meier, Wahlzürcherin und „Kulturjournalistin des Jahres 2020“, ist in einem kleinen Dorf im Aargauer Fricktal aufgewachsen. Ihre Sehnsucht nach der grossen weiten Welt tragen auch die Personen in ihren Geschichten in sich. In ihrem neusten Buch ist dies die Protagonistin Valerie, auch sie ist Journalistin, auch sie sehnt sich weg aus dem kleinen Dorf, denn das Abenteuer wartet in der grossen Stadt. Simone Meiers Geschichten spielen oft in der Stadt, wobei „die Stadt“ vielfach das Gepräge der Stadt Zürich aufweist.

„Sie war das gewohnt: Dass sie eine genaue Idee hatte von der Welt und dass die Welt nicht daran dachte, sich danach zu richten.“

Aus: „Reiz“ von Simone Meier

Autorin und Hauptfigur haben nicht nur den Beruf der Journalistin gemeinsam, sondern auch die Sehnsucht nach der Grossstadt, nach Abenteuer und nach Liebe. Im Roman „Reiz“ verarbeitet die Autorin unter anderem auch sehr Persönliches, so auch eine unglückliche sexuelle Erfahrung. Valerie, ihre Protagonistin im Roman, ist mit 50 Jahren in der Mitte des Lebens angekommen und weiss, was sie will. Die Autorin vermittelt im Roman das Porträt einer Frau, die das Älterwerden mit etwelcher Lockerheit hinnimmt und mit ihren körperlichen Gegebenheiten durchaus zufrieden ist, heute würde man wohl von „Bodypositivity“ sprechen. Valerie ist eine schillernde Frau, eine, die sich mit Sarkasmus aus der Talfahrt des Lebens jeweils wieder hochschaukelt. Mutig steckt sie ein Burnout weg und erinnert sich an ihren traumatischen ersten Sex. Die Journalistin Valerie ist mit ihrem Lebensfreund, einem Star-Schauspieler, zusammen. Da ist aber auch noch Teo, ein 20 Jahre jüngerer Liebhaber. Wenn Erfahrungen und Erinnerungen ins Spiel kommen, dann muss jeweils auch noch die Grossmutter herhalten, mit deren Hilfe sich jederzeit die Kindheit heraufbeschwören lässt. Früher war Valerie das „fadeste Mädchen weit und breit“. Als Journalistin liebt sie nun dagegen die spitze Feder, ist witzig und zuweilen gar böse.

„Valerie schaute auf die Autos runter, ass Burger und Apfeltaschen, betrachtete ihr Gesicht in der Fensterscheibe und fand sich das fadeste Mädchen weit und breit.“

Aus: „Reiz“ von Simone Meier

Liebe über Generationen hinweg. Valerie, die abgebrühte Journalistin, verguckt sich in Luca, in einen verträumten jungen Mann, der das Gymnasium abgebrochen hat und an einer unglücklichen Liebe leidet. Die Storys von Valerie und von Luca entwickeln sich als parallele Erzählstränge nebeneinander her und finden sich erst ganz zum Schluss zu einer wohl etwas weltfremden und utopischen Idylle zusammen. Manchmal wird man als Leser den Eindruck nicht ganz los, dass kindliche „Regressionen“ die Protagonistin daran hindern, ein erfüllendes und befriedigendes Leben zu führen.

„Oft war sie bei ihrer Grossmutter in einem kleinen Reihenhaus am Rande der Stadt, betrachtete Fotos von früher, aus der armseligen Kindheit und dem bescheidenen Frauenleben von einer, die sich nie beschwerte und der sich Valerie näher fühlte als jedem anderen Menschen.“

Aus: „Reiz“ von Simone Meier

Optimismus trotz Tiefschlägen. Die Zuversicht schöpfen Simone Meiers Protagonistinnen oftmals aus einer Traumwelt. Nicht selten träumen sich ihre Figuren weg in eine Anderswelt. Die Fiktionalisierung dient dabei als Mittel zum Zweck, was sich allerdings zuweilen als problematisch erweist. Dann etwa, wenn die Journalistin Valerie einen sexuellen Übergriff auf ein junges Mädchen ohne Recherche mit ihren eigenen ersten Sex-Erfahrungen vermischt. In derartigen Situationen griff die Protagonistin Valerie bereits in ihrer Kindheit zu Baileys, Rosé und Zigaretten. Die Sehnsucht nach Aufmerksamkeit und nach Selbstverwirklichung befeuert jedoch immer wieder die unbändige Lust am Leben.

„Sie musste dringend wieder mehr werden als nur ihre Arbeit. Vielleicht würde sie es schaffen. Nach Amerika wartete Rom, wartete Wien, jetzt war April, erst ab August wartete wieder der Job.“

Aus: „Reiz“ von Simone Meier

Persönlich kam mir die Romanstory von Simone Meier etwas widersprüchlich rüber. Die erfahrene Valerie geht mit ihrem Lover um wie mit einem Gebrauchsgegenstand. Und Luca verliert sich in seinen jugendlichen Träumen von einer erfahrenen Geliebten, die ihm durch die Wirren der Jugend helfen soll. Dazwischen ist auch mal schneller Partysex angesagt, dazu diese ständige Angst vor dem Alleinsein. Nun ja, wohl etwas widersprüchlich und ungeordnet diese sich überlagernden Erzählsequenzen. Aber es sei zugegeben: Das moderne Beziehungs-Leben ist nun mal verwirrlich. Müssen moderne Liebesgeschichten schlecht enden? Nein, wenn man es schafft, die Leichtigkeit und den Spass am Leben nicht ganz zu verlieren. „Reiz“ von Simone Meier hält dazu einige Anstösse bereit.

Hören Sie den Podcast aus der Sendung Literaturwelle zum Buch „Reiz“. (Quelle: rro / Kurt Schnidrig / Rafael Heinen)

Text, Bild und Radiosendung: Kurt Schnidrig