Der Stoff, aus dem (Rilke-) Gedichte sind

Rainer Maria Rilke versuchte in Paris einen Neuanfang mit neuen lyrischen Stoffen. (Foto: Kurt Schnidrig)

Wer einen Schreibstau oder gar eine Schreibhemmung vermeiden will, der braucht zuweilen einen Tapetenwechsel, ein anderes Umfeld, eine faszinierende Begegnung oder einen neuen Blick auf die Welt. Nach Liebesleid, nach herben Enttäuschungen und nach einer Schreibblockade verreiste Rainer Maria Rilke im Sommer 1902 nach Paris, um dort eine Monografie über den Bildhauer Auguste Rodin zu verfassen. Die Pariser Zeit sollte sich für Rilke jedoch als freudlos erweisen. Die Grossstadt wirkte auf ihn angsteinflössend. Paris war für Rilke gleichbedeutend mit Schrecken und Terror. Auf seinen dichterischen Genius hingegen wirkte das Leben in der Grossstadt anregend. Die Begegnung mit der Moderne liess in ihm den Entschluss reifen, neue Welterfahrung zu sammeln und die Welt mit anderen Augen zu sehen.

Bildhafte Lyrik. Die neue Betrachtungsweise schlug sich einerseits in seinem einzigen Roman „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ nieder und andererseits in bildhafter Lyrik, die stark von der Begegnung mit dem Bildhauer Auguste Rodin geprägt war. Diese „bildhafte Lyrik“ weist als stärkstes Kunstmittel die Metapher auf. Ein Gedicht aus dem Zyklus „Das Buch der Bilder“ aus den Jahren 1902 und 1906 trägt den Titel „Der Knabe“. Bis heute versuchen Rilke-Kenner das geheimnisvolle Gedicht zu „knacken“. Wer allerdings den Hintergrund und die Quelle des Gedichts nicht kennt, der interpretiert „ins Leere“ und dürfte kaum mehr als persönliche Assoziationen zustande bringen, die kaum zielführend sind.

Die facettenreche Stadt Paris an der Seine wirkte zu allen Zeiten inspirierend auf Dichter und Schriftsteller. (Foto: Kurt Schnidrig)

Welches Geheimnis verbirgt das Gedicht „Der Knabe“? Das Gedicht finden Sie, liebe Leserin, lieber Leser, am Schluss dieser Blog-Geschichte. Falls Sie sich an eine Interpretation herantrauen möchten – nur zu! Für alle, die dies bereits vergeblich versucht haben, sei hier der Hintergrund verraten, der Rilke zum Gedicht „Der Knabe“ inspiriert hatte. In diesem Gedicht bezieht sich Rilke auf die Welterfahrung des Findlings Kaspar Hauser. Als Knabe, der weitab von jeglicher Zivilisation aufgewachsen war, hatte Kaspar Hauser eine ganz eigene Weltsicht gewonnen. Als Findelkind hatte er auch eine ganz anders geartete Perspektive auf die Welt, eine ungezwungene, eine unverbrauchte. Ihm war eine Weltsicht eigen, die unmittelbar und ursprünglich war. In seiner aufwühlenden Pariser Zeit wünschte sich Rilke nichts sehnlicher, als von dem Findelkind Kaspar Hauser lernen zu können. Rilke versuchte in Paris einen persönlichen Neuanfang, und dabei sollte ihm die erfrischend-unverbrauchte Sicht auf die Welt aus der Perspektive von Kaspar Hauser ein Vorbild und ein Anstoss sein.

Wer war Kaspar Hauser? An einem Maitag des Jahres 1828 tauchte in Nürnberg ein etwa 16-jähriger Jugendlicher auf, der kaum sprechen konnte und anscheinend geistig zurückgeblieben war. Alles, was die Behörden vom Jungen in Erfahrung bringen konnten, war, dass er, solange er sich zurückerinnern konnte, bei Wasser und Brot immer ganz allein in einem dunklen Raum gefangen gehalten worden war. Der „Fall“ des Jungen erregte damals weltweit Aufsehen. Bald schon tauchten Gerüchte auf. Ein zeitgenössisches Gerücht kolportierte, Hauser sei der 1812 geborene Erbprinz von Baden, den man gegen einen sterbenden Säugling ausgetauscht und beiseitegeschafft habe, um einer Nebenlinie des badischen Fürstenhauses die Thronfolge zu ermöglichen. Diese „Prinzenlegende“ inspirierte und motivierte nicht nur Wissenschaftler und Kriminalisten, sondern auch Schriftsteller und Dichter. Zahlreiche Adaptionen und Bearbeitungen des Stoffes lassen sich in der Literaturgeschichte aus dieser Zeit nachweisen und vergleichen. Auch Rainer Maria Rilke war dem Kaspar-Hauser-Stoff aufgesessen, was sich im Gedicht „Der Knabe“ äusserte.

Kaspar Hauser ist „Der Knabe“. Rainer Maria Rilke nutzte für sich die neue Welterfahrung aus der Sicht des Knaben Kaspar Hauser. Die besondere Betrachtung der Welt und der ursprüngliche und bildliche Sprachstil des Findlings Kaspar Hauser widerspiegeln sich im Gedicht „Der Knabe“. Die Sichtweise von Kaspar Hauser zeigt sich in Umschreibungen und in Metaphern im Gedicht „Der Knabe“. So werden „Die wilden Pferde und Rosse“ gleich zweimal im Gedicht genannt. Wir wissen, dass Hauser, als er noch ein kleiner Junge war, zwei kleine weisse Holzpferde bei sich hatte. Als Findelkind fehlte Kaspar Hauser die Erfahrung, wie das Getrappel von Pferden tönt. Er wusste aber, wie es tönt, wenn der Regen rauscht. Deshalb vergleicht er das Geräusch, das Pferde mit ihren Hufen verursachen, mit dem Geräusch des rauschenden Regens. Ein weiteres Beispiel: „Die Trompete, welche blitzt und schreit“ – nie zuvor hatte Kaspar Hauser eine Trompete gesehen oder gehört. Deshalb kommt er auf den Gedanken, dass eine Trompete blitzen und schreien könnte. Der „Blitz“ und der „Schrei“ gehören zu seinem Wortschatz, den er sich in der Abgeschiedenheit aufgebaut hat.

„Ich möchte einer werden so wie die, / die durch die Nacht mit wilden Pferden fahren, / mit Fackeln, die gleich aufgegangenen Haaren / in ihres Jagens grossem Winde wehn. / Vorn möchte ich stehen wie in einem Kahne, / gross und wie eine Fahne aufgerollt. / Dunkel, aber mit einem Helm von Gold, / der unruhig glänzt. Und hinter mir gereiht / zehn Männer aus derselben Dunkelheit / mit Helmen, die, wie meiner, unstät sind, / bald klar wie Glas, bald dunkel, alt und blind. / Und einer steht bei mir und bläst uns Raum / mit der Trompete, welche blitzt und schreit, / und bläst uns eine schwarze Einsamkeit, / durch die wir rasen wie ein rascher Traum: / Die Häuser fallen hinter uns ins Knie, / die Gassen biegen sich uns schief entgegen, / die Plätze weichen aus: wir fassen sie, / und unsere Rosse rauschen wie ein Regen.“

Rainer Maria Rilke: „Der Knabe“

Immer wieder thematisiert das Gedicht die Dunkelheit. Viele Jahre hatte das Findelkind Kaspar Hauser in einem finsteren Loch oder Kerker zugebracht. Die Dunkelheit war sein steter Begleiter. Es ist deshalb einleuchtend, dass alles, was für ihn nicht erklärbar ist, „dunkel“ ist oder „aus der Dunkelheit“ kommt. Auch sprachliche Defizite weisen auf Kaspar Hausers lange Abgeschiedenheit hin. Der Spracherlern-Prozess war für ihn lückenhaft. Dies zeigt sich zum Beispiel im Gebrauch von Aktiv und Passiv, die beiden „Leideformen“ kann er nicht korrekt gebrauchen. Dies lässt sich aus den letzten vier Zeilen belegen: „Die Häuser fallen hinter uns ins Knie“; „Die Gassen biegen sich uns schief entgegen“; „die Plätze weichen aus“.

Im Gegensatz zum pulsierenden gesellschaftlichen Leben in der Grossstadt Paris, wuchs „der Knabe“ in dunkler Abgeschiedenheit auf. (Foto: Kurt Schnidrig)

Das Kaspar-Hauser-Syndrom hat sich seither in Medizin und Psychologie als Fachbegriff etabliert. Das Syndrom tritt bei Babys oder Kindern auf, die lange Zeit ohne persönlichen Kontakt und ohne liebevolle Zuwendung oder Nestwärme aufwuchsen und kaum soziale Zuwendung erhielten. Für Rilke war das Syndrom ein Steilpass für eine „tabula rasa“ in seinem Leben als Dichter.

Text und Fotos: Kurt Schnidrig