Seitenstarke Bücher erklären die Welt

Seitenstarke Bücher sind im Trend. Sie funktionieren als Lichtboten einer Gesellschaft, die Gefahr läuft, sich in der Dunkelheit zu verlieren. (Symbolbild: Kurt Schnidrig)

Umfangreiche Bücher vermitteln welthaltige Geschichten in einer Gesellschaft, die Gefahr läuft, in der Dunkelheit den Kurs zu verlieren. Die seitenstarken Bücher verdrängen damit die „Schmalkost“, die rätselhaften und schwer deutbaren Kurzgeschichten. Bedeutende Erzähler*innen der Gegenwart sprechen von einer „neuen Ernsthaftigkeit“ und fühlen sich als Teil einer weltweiten Suchbewegung nach der Wahrheit. Als mutig und ambitioniert darf das Bemühen jener Schreibenden bezeichnet werden, die mit ihren voluminösen Werken versuchen, den Schein und die Unaufrichtigkeit zu durchbrechen, die von den verschiedensten Medien verbreitet werden. Sie wenden sich gegen das Gezwitscher und Gefauche der Fake-News- und Facebookgesellschaft.

Eine Renaissance des Epischen. Die monumentalen Werke in Buchform stehen für das weltweite Bedürfnis, den oftmals boulevardesk aufgemotzten Formaten und lieblos hingeworfenen Kürzestgeschichten welthaltige Substanz gegenüberzustellen. Die gegenwärtige Renaissance des Epischen lässt uns wieder bewundernd auf die wuchtigen Klassiker im Stile von Dantes „Die göttliche Komödie“ oder von Homers „Odyssee“ zurückblicken, die Jahrhunderte überdauert und bis heute nichts von ihrem überzeitlichen Gehalt eingebüsst haben. Die Renaissance des Epischen hat sich bereits vor wenigen Jahren angekündigt mit epochalen Werken. Dazu gehört etwa Philipp Weiss‘ Opus magnum „Am Wegrand sitzen die Menschen und lachen“ oder Nino Haratischwilis voluminöses Prosawerk „Die Katze und der General“, beide aus dem Jahr 2018. Dazu gesellen sich immer mehr Schriftsteller*innen mit visionären Entwürfen unsere Zukunft betreffend, viele im Gefolge von Ann Cotten („Lyophilia“) oder Sibylle Berg („GRM. Brainfuck“). Seit vielen Wochen der unerreichte Weltbestseller ist jedoch „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ von Yuval Noah Hariri. Wobei „kurz“ ein sehr relativer Begriff ist. Es sind 528 Seiten vonnöten, um zu erklären, wie aus dem Menschen, der Krone der Schöpfung, der Schrecken des Universums wurde.

Orientierung steht hoch im Kurs. Spurensuche und Betrachtungen in seitenstarken Büchern versuchen den Spagat zwischen neuen Werten und herkömmlicher Moral. In unserer Zeit mit rapider Digitalisierung und Dynamisierung aller Lebensbereiche ist die Suche nach tragenden Konstanten angesagt. Möglicherweise haben Bewegungen wie der Postfeminismus oder auch der Postkolonialismus zum neuen Bedürfnis nach Welterklärungsnarrativen geführt. Die Suche nach Identität und Sicherheit befeuert die Autorenschaft zu seitenstarken Büchern und Romanen. Ich denke an „Der Idiot des 21. Jahrhunderts“ von Michael Kleeberg aus dem Jahr 2018 mit epochalen Themen wie Entfremdung und Suche nach neuer Heimat. Oder auch an Michael Köhlmeiers Wälzer „Bruder und Schwester Lenobel“ über die Selbstsuche einer jüdischen Familie in Zeiten nach dem Holocaust-Trauma. In der Schweiz holt Autor Charles Lewinsky („Der Halbbart“) mit epochalen Werken neue Orientierung aus dem tiefsten Mittelalter. Regional lässt sich der Kreativitätsforscher Gottlieb Guntern („Honigbauch“) von der antiken Mythologie inspirieren, um die Heilung einer gespaltenen Persönlichkeit in einem über 600 Seiten starken Werk opulent und welthaltig zu erklären.

Die Totalität der Lebenswelt einfangen, diesen Anspruch stellten bereits Erzähler wie Thomas Mann, Robert Musil oder James Joyce der als „negativ“ empfundenen Moderne gegenüber. Negativ deshalb, weil die wirre und konzeptlose Moderne die grossen Deutungsformate aufgegeben und sich rätselhaften Kurzgeschichten zugewandt hatte, die eher für kurzfristigen Unterhaltungswert zu sorgen hatten. Nun aber keimt die hehre Idee auf, mit seitenstarken Büchern den wirren Zeiten als ruhender Fels in der Brandung den nötigen Halt zu vermitteln.

Vorbehalte gegen deutschsprachige Kurzgeschichten. Die deutschsprachige Kurzgeschichte der Gegenwart ist vielfach nicht dazu angetan, die literarischen Bedürfnisse zu befriedigen. Zu vieles bleibt darin ungesagt. Die Beschreibungen von Orten, Personen und Vorgeschichten fehlen oft ganz. Durch die Kürze wird der Inhalt zwar verdichtet, der Inhalt wird auf das Wesentliche eingedampft. Das tönt zwar positiv, in Wahrheit verhält es sich aber wie mit einem Kreuzworträtsel: Die Leser*innen sollen bitteschön die Arbeit übernehmen, die sich die Autorin spart. Der Autor wirft seine Leserschaft in die Ungewissheit. Oftmals wird nicht klar, was die Autorenschaft in der Kurzgeschichte mitteilen möchte. Die Kurzgeschichte solle die Leser*innen zum Mitdenken anregen, wird oft moniert. In einer Kurzgeschichte müsse möglichst vieles ungesagt und offen bleiben, damit sie spannender wird. Dem ist entgegenzuhalten: Wer Texte veröffentlicht, der schreibt für ein Publikum. Viele Heutige haben jedoch weder Zeit noch Lust, irgendwelche Zusammenhänge, Hintergründe oder gar Schlussfolgerungen selber als Leser*innen herzustellen. Erinnern wir uns an Bertolt Brecht. Seine Theaterstücke mit dem V-Effekt („Verfremdungs-Effekt“) werden heute kaum noch aufgeführt. Wer möchte sich nach einem Theaterabend noch dazu aufraffen, sich „selbst den Schluss zu suchen“, wie sich das Brecht von seinen Stücken und von seinem Publikum erhoffte? Kaum jemand mag dem Autor oder der Autorin die Arbeit abnehmen, auszuformulieren und zu erklären. Das breite epische Erzählen ist wichtig, um Literatur von Format zu schaffen. Die deutschsprachige Kurzgeschichte der Gegenwart wird deshalb auch schon mal als „Fingerübung für Anfänger“ bezeichnet oder als Übungsfeld für Schüler*innen, denn in der Schule lässt sich vortrefflich über das „Hingeworfene“ diskutieren. Die deutsche Literaturgeschichte verfügt natürlich auch über literarisch hochstehende Kurzgeschichten, die allerdings vor allem zu Kriegszeiten entstanden sind.

Gute deutschsprachige Kurzgeschichten haben Schriftsteller wie Borchert und Böll geschrieben. Gut deshalb, weil die Leser*innen dieser Kurzgeschichten wissen, wovon die sogenannte „Trümmerliteratur“ erzählt. Bei der Kurzgeschichte „Das Brot“ von Borchert beispielsweise ist uns der Hintergrund bekannt. Es ist Krieg. Es gibt nichts zu essen. Soll der Mann in der Borchertschen Kurzgeschichte in der Nacht die letzte Krume Brot essen, während seine Frau schläft? Soll er ihr das letzte Stück Brot wegessen, um den eigenen Hunger zu stillen? Diese Kurzgeschichte ist hintergründig, allgemein verständlich und jedes weitere Wort wäre ein Wort zu viel. Derartige Kurzgeschichten sind in der deutschsprachigen Literatur jedoch eher selten.

Die amerikanische „Short Story“ hat da weit mehr zu bieten als die gegenwärtige deutschsprachige Kurzgeschichte. Edgar Allan Poe, Ernest Hemingway und viele andere US-amerikanische Autoren haben unter einer „Short Story“ etwas ganz anderes verstanden. Auch bei Hemingway gibt es viel „Ungesagtes“. Er hatte die Theorie des „Eisberg-Modells“ entwickelt. Was ihm aber wichtig war: Im Eisberg-Modell muss mindestens so viel erzählt werden, dass die Leserschaft genügend Anhaltspunkte hat, um die Story weiter aus- oder zu Ende zu denken.

Die „Short Story“ als Alternative für voluminöse Romane. Die kanadische Autorin Alice Munro hat – sehr zurecht – den Nobelpreis für ihre „Kurzgeschichten“ erhalten. Es sind dies jedoch keine „Kurzgeschichten“, wie sie zurzeit im deutschsprachigen Raum zirkulieren. Ihre „Short Storys“ sind brillante Erzählungen, häufig über 30 Seiten lang und mit einem furiosen Finale. Alice Munro schrieb Erzählungen, die alles ermöglichen, was gute Literatur ausmacht: Einfühlung, Atmosphäre, Beschreibung, Poetisches, Prosaisches, Spannungsbogen, furioses Finale… Damit bietet sich die „Short Story“ als Alternative an für all jene, die es zeitlich nicht schaffen, sich den seitenstarken Welterklärungs-Formaten, den voluminösen Romanen und den monumentalen Wälzern lesend anzunähern.

Text und Bild: Kurt Schnidrig