Das klassische Theater ringt um sein Leben

Ein Besuch im wieder aufgebauten „Shakespeare’s Globe Theatre“ in London. (Fotos: Kurt Schnidrig)

Auch bei uns öffnen nach den langen Monaten der Pandemie die Theaterhäuser wieder ihre Tore. Wer jedoch die Programme der kommenden Spielzeit studiert, der kommt zum Schluss: Das klassische Theater ringt um sein Leben. An seine Stelle sind Billig-Produktionen getreten, vor allem Konzerte von Bands, die man aus dem Fernsehen kennt, dazu reichlich und immer die gleichen Auftritte von Comedians, Lach-Revues, simple Musicals und Lachnummern. Wo aber ist das klassische Theater geblieben? „Die menschliche Schöpferkraft strömt jetzt durch andere Betten“, klagte bereits Max Reinhardt, der berühmte Theatermacher und Film-Regisseur, in seiner weltbekannten „Rede über den Schauspieler“.

„Das Heil kann nur vom Schauspieler kommen“, prophezeite Max Reinhardt in seiner Rede über den Schauspieler, gehalten im Februar 1928 an der Columbia Universität in New York. Seine Rede gilt in der Theatergeschichte bis heute als das Genialste, was über Schauspieler*innen – vielleicht im ganzen 20. Jahrhundert – gesagt worden ist. Unser Oberwalliser Schauspieler Beat Albrecht trägt die „Rede über den Schauspieler“ immer wieder gerne vor, denn an Aktualität hat sie nichts eingebüsst. Leider ist so mancher Theaterdirektor heutzutage vor allem nur Manager. Das war früher anders.

„Shakespeare ist der grösste und unvergleichliche Glücksfall des Theaters. Er war Dichter, Schauspieler und Direktor zugleich.“

Max Reinhardt: „Rede über den Schauspieler“.

Ein Besuch im Shakespeare’s Globe Theatre in London lässt erahnen, was klassisches Theater zu bieten hätte. Der Besuch führt überdeutlich vor Augen, woran frühere wie heutige Theater kränkeln: Das Programm wird dem breiten Publikums-Geschmack angepasst, der oftmals einem Billig-Menu gegenüber der klassischen Theaterkost den Vorzug gibt. Dass Theaterhäuser jedoch auch einen Bildungs- und Kulturauftrag hätten, geht darob allzu leicht vergessen. Das Globe Theatre wurde 1599 in Bankside, einem Londoner Stadtteil am rechten Themse-Ufer, erbaut. Nicht etwa gewiefte Geschäftsleute waren die Erbauer, sondern eine Schauspiel-Truppe, genannt „The Lord Chamberlain’s Men“, zu der auch William Shakespeare gehörte. Shakespeare war denn auch der Hausdichter dieses Theater-Unternehmens. Alle seine grossartigen Stücke gelangten im Globe Theatre zur Aufführung. Das Globe Theatre war das erfolgreichste Theater seiner Zeit. Nach dem Geschmack der Elisabethaner wurden die Stücke prächtig angereichert mit prunkvollen Kostümen und grossartiger Musik. Das Globe Theatre war derart eingerichtet, dass die Spielleiter mit wenig Kulissen und Requisiten auskamen. Leider wurde das Globe im Jahr 1613 durch ein Feuer vernichtet, das während der Aufführung des Stücks Heinrich VIII ausbrach. Gemäss den Regieanweisungen wurde eine Kanonenkugel abgefeuert, die das Strohdach in Brand setzte. Das Globe wurde zwar wieder aufgebaut, im Jahr 1642 jedoch von der puritanischen Regierung, die sich gegen Vergnügungsstätten aller Art wandte, wieder geschlossen und später abgerissen.

Die Galerien im „Globe Theatre“ wurden für Aufführungen genutzt. Man konnte sie als Balkon nutzen, wie in der berühmten Szene aus „Romeo und Julia“. (Foto: Kurt Schnidrig)

Rekonstruktion des Globe Theatre. Als im Jahr 1949 der amerikanische Schauspieler Sam Wanamaker nach London kam, wollte er das berühmte Globe Theatre besichtigen. Er war entsetzt, als er feststellen musste, dass es verschwunden war. So beschloss er aus eigener Initiative, die Rekonstruktion des berühmtesten Theaters der Welt zu seinem Lebenswerk zu machen. Im Jahr 1997 durften die Londoner Shakespeare’s Globe wieder eröffnen. Der Schauspieler Sam Wanamaker konnte die Wiedereröffnung leider nicht mehr miterleben, er starb im Jahr 1993 an Krebs. Seit 1997 sind nun jeden Sommer gleich mehrere Stücke im Freiluft-Theater Globe zu geniessen.

Das Besondere des Globe Theatre besteht in der grossen Nähe zwischen Zuschauern und Schauspieler*innen. Kein Platz ist mehr als 20 Meter von der Bühne entfernt. Wer im Innenhof steht, der hat die Akteur*innen zum Greifen nah vor sich. In den umlaufenden Galerien finden sich überdachte Sitzplätze. Hohe Herrschaften reservieren sich diese Logen-Plätze, um so besonders nahe am Schauspiel zu sein. Und natürlich auch, um von allen anderen Besucher*innen gesehen zu werden.

Das Dach, auch „Himmel“ genannt, wird ebenfalls als Teil der Schauspiele genutzt. (Foto: Kurt Schnidrig)

Die rechteckige Bühne ragt in den Zuschauerraum hinein. Sie wird als „Apron Stage“ bezeichnet. Im Gegensatz zum Innenhof ist sie überdacht. Das Dach dient nicht nur dem Schutz der Schauspieler*innen vor dem unberechenbaren Londoner Wetter, sondern wird auch als Teil der Schauspiele genutzt. Vom sogenannten Himmel (the heaven) können Figuren des Stücks auf die Bühne fliegen, bzw. an Seilen herabgelassen werden.

„Die Leidenschaft, Theater zu schauen, Theater zu spielen, ist ein Elementartrieb des Menschen. Und dieser Trieb wird Schauspieler und Zuschauer immer wieder zum Spiel zusammenführen und jenes höchste, alleinseligmachende Theater schaffen.“

Max Reinhardt: „Rede über den Schauspieler“

Fehlt uns heute diese Leidenschaft für das klassische Theater? Ist es richtig und vertretbar, dass unsere Schauspielhäuser je länger je mehr aus dem Fernsehen abgekupferte Musik- und Lachnummern anbieten statt klassischer und leidenschaftlicher Theaterkost? Die Ehrfurcht und die Hochachtung vor der hohen Schauspielkunst scheint uns Heutigen abhanden gekommen zu sein. Es sei deshalb nochmals aus der genialen Rede zitiert, die der Theatermacher und Film-Regisseur Max Reinhardt am Anfang des letzten Jahrhunderts an der Columbia Universität in New York gehalten hat:

„In der frühesten Kindheit des Menschen ist die Schauspielkunst entstanden. Der Mensch, in ein kurzes Dasein gesetzt, in eine dicht gedrängte Fülle verschiedenartigster Menschen, die ihm so nahe und doch so unfassbar fern sind, hat eine unwiderstehliche Lust, sich im Spiel seiner Phantasie von einer Gestalt in die andere, von einem Schicksal ins andere, von einem Affekt in den anderen zu stürzen. Die ihm eingeborenen, aber vom Leben nicht befruchteten Möglichkeiten entfalten dabei ihre dunklen Schwingen und tragen ihn weit über sein Wissen hinaus in den Mittelpunkt wildfremder Geschehnisse. Er erlebt alle Entzückungen der Verwandlung, alle Ekstasen der Leidenschaft, das ganze unbegreifliche Leben im Traum.“

Max Reinhardt: „Rede über den Schauspieler“

Wie wünschte ich mir wieder mal ein echtes, originales klassisches Theaterstück! So wie vor Jahresfrist, als wir als Zuschauer*innen im Shakespeare’s Globe Theatre in London tief beeindruckt einen wahren Glücksfall des Theaters erleben durften: Shakespeares Allmacht und Genie war für uns hautnah spürbar. Die grossen klassischen Dichter und Dramatiker haben eine zauberhafte, vollkommene Welt geschaffen. Um mit Max Reinhardt zu sprechen: Shakespeare war Hamlet und König Claudius, Ophelia und Polonius in einer Person. Er war Othello und Jago, Falstaff und Prinz Heinz, Shylock und Antonio, Zettel und Titania und das ganze Gefolge von lustigen und traurigen Narren lebte in seinem Inneren.

Leider werden heutzutage – wenn überhaupt – meist nur noch sogenannt „modern“ aufgemachte klassische Theater geboten, unsinnig und demonstrativ mit Aktualität unterlegt, ein Verfremdungs-Theater für Unbedarfte. Klassische Stoffe werden zu billiger Wegwerf-Ware degradiert. Dass dabei die Werke grosser Meister zerstört und ruiniert werden, wird mit grossen Worten schnöde abgetan. Und trotzdem. Um mit Max Reinhardt zu sprechen: Ich glaube an die Unsterblichkeit des Theaters. Es ist der seligste Schlupfwinkel für diejenigen, die ihre Kindheit heimlich in die Tasche gesteckt und sich auf und davon gemacht haben, um bis an ihr Lebensende weiter zu spielen.

Text und Fotos: Kurt Schnidrig