Schweizer Buchpreis-Verleihung: Beobachtungen am Rande

Erstmals präsentierte sich die Jury zusammen mit den Nominierten für den Schweizer Buchpreis. Von links: Hubert Thüring (Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft, Universität Basel), Tommy Egger (Buchhändler), Annette König (SRF-Literaturbloggerin), Daniel Graf (Kulturredakteur), Sieglinde Geisel (Freie Kritikerin), Thomas Duarte (Nominierter), Martina Clavadetscher (Nominierte), Michael Hugentobler (Nominierter), Veronika Sutter (Nominierte). (Foto: Kurt Schnidrig)

Beobachtung 1: Es ist nicht dasselbe, ob man als Literat an eine Buchpreis-Verleihung geladen ist oder als Journalist. Journalisten sind zwar meistens sehr schnell mit einer Berichterstattung zur Hand, sie haben jedoch in den allermeisten Fällen die Bücher nicht gelesen. So wehrte sich Preisträgerin Martina Clavadetscher vergeblich gegen das Geschreibsel vieler Journalisten, ihre Roman-Story spiele in einer Sexpuppen-Fabrik in China. Es ist auch nicht so, dass im Buch „Die Erfindung des Ungehorsams“ irgendjemand den Sexpuppen in China „eine Seele einhaucht“, wie dies reisserische Titel in unseren Tagezeitungen behaupten. Wer das Buch von Martina Clavadetscher liest, der wird unschwer zur Erkenntnis gelangen: Im Roman geht es um Roboter-Puppen. Sind sie echt oder falsch? Sind sie programmiert oder nicht? Werden die Puppen physische Formen annehmen? Das alles bleibt offen, und das macht das Geheimnisvoll-Mysteriöse des Erzählten erst aus.

Beobachtung 2: Seit ich mich erinnern kann, hat sich in all den Jahren noch nie eine Jury derart ehrlich und ohne jegliche Geheimniskrämerei geoutet und sogar freimütig für ein Gruppenbild mit den Nominierten ablichten lassen (Bild oben). Sowas verdient Lob und Anerkennung. Und wenn Jury-Präsident Daniel Graf vor vollbesetztem Saal im Theater Basel frank und frei zugibt: „Jede Literaturkritik ist der Kritik ausgesetzt und das muss auch sein“, dann zeugt dies von viel Sachverstand und Professionalität.

„Jede Literaturkritik ist der Kritik ausgesetzt und das muss auch so sein“, sagte Jurymitglied Daniel Graf. (Foto: Kurt Schnidrig)

Beobachtung 3: Nein, es ist nicht so, dass es nur eine Gewinnerin gibt. Viele Medienschaffende machen es sich unglaublich einfach. Die Clavadetscher hat gewonnen und basta. Das stimmt so nicht ganz. Zusammen mit Martina Clavadetscher haben es auch noch drei weitere Schreibende auf die Bühne des Theaters Basel geschafft. Und die preisgekrönte Siegerin hatte das Preisgeld von 40’000 Franken mit zwei Kollegen und einer Kollegin zu teilen.

Beobachtung 4: Auch wenn sich im Vorfeld alle einig waren, dass Clavadetscher gewinnen würde, kam nach der Präsentation der Nominierten und ihrer Lesungen im Festsaal des Volkshauses Basel plötzlich wieder Spannung auf. Würde tatsächlich Clavadetschers „Ungehorsam gegen das Literarisch-Konventionelle“ obenaus schwingen? Ist die Thematik „Mensch und Maschine“ in ihrem Buch nicht schon längst literarisch eine Konstante und folglich verbraucht? Das Motiv der von Menschenhand geschaffenen Kreatur erscheint bereits in griechisch-römischer Vorzeit im „Pygmalion“ und in den „Metamorphosen“ des Ovid. Und E.T.A. Hoffmann (1776-1822) führte das Motiv mit seiner Novelle „Der Sandmann“ definitiv in die Literatur ein. Schliesslich wäre auch noch anzumerken, dass auch heutige Autoren wie Hansjörg Schneider sich der Thematik „Mensch und/oder Maschine“ ausgiebig bedienen. „Mit der Thematik habe ich das Rad bestimmt nicht neu erfunden“, gestand denn auch Martina Clavadetscher selbstkritisch im Exklusiv-Interview mit mir.

Beobachtung 5: Mit Thomas Duarte und seinem virtuos witzigen und eleganten Roman „Was der Fall ist“ rückte nach dessen Präsentation und Lesung am Freitagabend ein weiterer Favorit ins Blickfeld der Anwesenden. Und auch Michael Hugentobler hievte sich mit „Feuerland“ in den engsten Favoritenkreis. Wie er den Realismus seines historischen Romans ins Fiktive kippen lässt – das ist schon literarische Weltklasse! Und dann ist da auch noch Veronika Sutter, in ihrer Präsentation zugegebenermassen etwas bescheiden, eine, die sich etwas gar sehr an ihre wohlwollende Lektorin anlehnt, aber dennoch: Ihre Geschichten berühren, ihr soziales Anliegen verfängt und springt auf die Leserschaft über. Kurz: Alle vier Schreibende und alle vier Bücher hätten die Krone verdient.

Beobachtung 6: Wie ist es nur möglich, dass die höchste literarische Auszeichnung der Schweiz vergeben werden kann, ohne dass bereits im Vorfeld durchgesickert wäre, wer obenaus schwingen wird? Wer sich etwa auch schon gefragt hatte, wie es denn nur möglich sein kann, dass der Boulevard die Ergebnisse jeder Bundesrats-Sitzung publiziert bevor sie überhaupt stattgefunden hat, der muss vor den Organisatoren des Schweizer Buchpreises einfach nur den Hut ziehen. Was keine regionale Preisverteilung schafft: Bis zum Schluss blieb geheim, wer denn nun den begehrten Schweizer Buchpreis gewinnen würde. Selbst die Nominierten tigerten noch Minuten vor der Bekanntgabe erwartungsvoll und spannungsgeladen durch den Saal des Theaters Basel.

Die Organisatoren schafften das Kunststück, die Gewinnerin des Schweizer Buchpreises bis zur Preisübergabe geheim zu halten. Im Bild: Eva Herzog, die Präsidentin von Literatur Basel, bei der mit Spannung erwarteten Bekanntgabe der Gewinnerin. (Foto: Kurt Schnidrig)

Beobachtung 7: Die Frauen holen literarisch mächtig auf. Als ich Martina Clavadetscher im Exklusiv-Interview fragte, wo denn die Männer in ihrem Buch geblieben seien, da wehrte sie sich zuerst und verwies auf die Figur des Jon B, einer männlichen Figur, die nebst den dominierenden Protagonistinnen auch noch in ihrem Buch vorkommt. Doch dann zog sie ungeniert vom Leder und sprach Klartext: „Es ist interessant, dass Sie mir diese Frage stellen. Über hunderte und tausende Jahre sind immer Männer in der Literatur vorgekommen und niemand hat die Frage gestellt, wo denn die Frauen geblieben seien.“ Dieselbe Frage liesse sich auch bei der Nominierten Veronika Sutter stellen. Auch in ihrem Buch feiert der Feminismus Urständ, dies allerdings wohl auch bedingt durch das Sozialwesen, in dem vorwiegend Frauen arbeiten, was sich in ihrem Buch „Grösser als du“ möglicherweise auswirkt.

Beobachtung 8: Eine Preisverleihung ohne kleinen Skandal? Dieser Eindruck täuscht. Der „kleine Skandal“ hatte bereits im Vorfeld stattgefunden. Eigentlich hätten sich fünf Nominierte im Theater Basel der Jury präsentieren sollen. Gekommen sind nur deren vier. Christian Kracht hatte sich nicht ohne Nebengeräusche bereits im Vorfeld zurückgezogen und nach Deutschland verabschiedet, wo er für den Deutschen Literaturpreis nominiert war. Christian Kracht hätte der diesjährigen Gewinnerin möglicherweise einen Strich durch die Rechnung machen können. 1966 in der Schweiz geboren, hat er nach seinem Debüt „Faserland“ die Romane „1979“, „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“, „Imperium“ und „Die Toten“ publiziert, die in über 30 Sprachen übersetzt worden waren. Er erhielt dafür bereits den Hermann-Hesse-Literaturpreis und den Schweizer Buchpreis für „Die Toten“. Nun wäre er im Theater Basel mit seinem neusten Roman „Eurotrash“ unter den Nominierten auf der Bühne gestanden.

Beobachtung 9: Hat die Stunde der Nobodys geschlagen? Immerhin haben es zwei Debüts auf die Shortliste des Schweizer Buchpreises geschafft. „Einer Debütautorin vorzuwerfen, dass sie nicht bekannt ist, das geht gar nicht“, sagte Jurypräsident Daniel Graf. Mit dieser Aussage hat er zweifellos ins Schwarze getroffen. Kommt dann jedoch hinzu, dass der eine oder die andere der Nominierten kaum eine literarische Ausbildung genossen hat, stellt sich allerdings die Frage, wie gross der Anteil am gelungenen Werk der Lektorin, dem Lektor oder dem Verlag zukommt. Selbstverständlich ist aber nicht auszuschliessen, dass literarische Wunderkinder auch heute noch einfach so mit viel Talent vom Himmel fallen können.

Schlussbeobachtung: Die Vielfalt, die Themenwahl, die Techniken und die vielen zauberhaften Formen des Schreibens, die am Literaturfestival Basel zu beobachten waren, überzeugten. Dass es viele Formen des literarischen Schreibens gibt, mag eine Binsenwahrheit sein. Dies aber immer wieder in Gemeinschaft mit Kolleginnen und Kollegen, mit Literatinnen und Literaten, erleben zu dürfen, das erst macht das Wundervolle der Schriftstellerei aus.

Text und Fotos: Kurt Schnidrig