Wie geht Corona-Lyrik? Eine Begegnung mit Anja Kampmann

Anja Kampmann gilt als die angesagteste deutschsprachige Lyrikerin der Gegenwart. Wir trafen sie in Basel. (Fotos: Kurt Schnidrig)

Sie lässt uns erfahren, was wir in diesen virenverseuchten Zeiten vermissen: Berührungen und Intensität. In ihren Gedichten und Miniaturen erzählt Anja Kampmann von all dem, was aufgrund der Pandemie übersehen und vergessen geht. Die gebürtige Hamburgerin ist im niedersächsischen Lüneburg aufgewachsen. Dort, in der idyllischen Lüneburger Heide, textet und dichtet sie, umgeben von Feldern, Weiden und alten Bauernhäusern. Während wir der Lyrikerin im Basler Volkshaus zuhören, geht uns das Herz auf. Vor allem rufen Anja Kampmanns poetische Texte die Erinnerungen an die eigene Jugendzeit wach. Während wir uns während Monaten der Pandemie in unseren Häusern vor dem Virus verschanzen mussten, erzählen uns Kampmanns Texte von einer frühlingshaften Welt, von einer Welt, die inmitten eines blühenden Aufbruchs steht. Die Lyrikerin schafft es, unseren Blick wegzulocken von den fetten Katastrophen-Schlagzeilen der Medien hin auf die Schönheiten und Kleinode der Welt, auf eine Augenweide, die unsere Herzen dennoch erquickt: Blühende Apfelbäume, Nächte wie kühles Bier, süsse Mädchen mit Vanille-Parfum.

„dennoch: die apfelbäume blühten / die nächte noch kühl / so auch das bier die mädchen die süssen / parfum vanille im dunkeln / die apfelbäume blühten flächen gähnten / unter niedrigem ersten korn…“

Aus dem Lyrikband „Der Hund ist immer hungrig“ von Anja Kampmann

Intensität und Berührungen ist es nicht genau das, was wir zurzeit so sehr vermissen? Abstand halten, in Quarantäne gehen, sich abschotten. Während immer neue Wellen des krankmachenden Virus uns heimsuchen, vermissen viele von uns das echte Leben. Wir sehnen uns nach dem Zwischenmenschlichen, nach einer Umarmung, und vor allem nach einem Ende der Tristesse innerhalb der eigenen vier Wände. Die bei vielen von uns aufkommende Melancholie und die Sehnsucht nach all dem, was sein könnte, aber nicht sein darf, sind ein Steilpass für eine Lyrikerin, für eine Poetin, die in ihren Texten vermitteln kann, was uns fehlt.

Die aufkommende Melancholie und die Sehnsucht nach all dem, was sein könnte, aber nicht sein darf, sind ein Steilpass für die Poetin Anja Kampmann. (Foto: Kurt Schnidrig)

Schwelgen in Erinnerungen. Die Corona-Lyrik der Anja Kampmann weckt Erinnerungen an eine goldgerahmte Vergangenheit. Ihre poetischen Texte öffnen uns die Augen für all das, was uns ausmacht, und was uns vorwärts bringt. Erinnerungen funktionieren dabei wie Flashbacks, wie Rückblenden. Anja Kampmanns Texte nehmen uns mit in frühere Zeiten, in ein Damals, als noch vieles möglich gewesen war, was in Covid-Zeiten nicht mehr möglich zu werden scheint. Dazu gehören zutiefst menschliche Bedürfnisse. Dazu gehören Berührungen und menschliche Umarmungen.

„Uns gibt es / In den Berührungen / Die am weitesten entfernt sind / Von den Strassen / In Häusern, die an Strassen stehen / Wir teilen uns einen Stuhl / Der knarzt, früh am Morgen / Steinstufen dampfen / Nach einem langen Regen / Ich lese ein Liebesgedicht / Ein zerschnittener Drahtzaun / zu einem Waldstück mit jungen Bäumen.“

Aus dem Lyrikband „Der Hund ist immer hungrig“ von Anja Kampmann

Oftmals sind es die kleinen Dinge des Lebens, die unser Leben lebenswert machen. Ist es die Flipperbude? Ein Spaziergang mit dem Hund? Ein Liebesgedicht? Bei Anja Kampmann sind es nicht Eruptionen von Metaphern, die ihre Texte so anziehend werden lassen. Sie bevorzugt einen unkomplizierten, aber intimen Schreibstil.

Anja Kampmann sucht. Sie weckt mit ihrer Lyrik die Sehnsucht nach dem, was sein könnte. (Foto: Kurt Schnidrig)

Immer bleibt zum Schluss ein Rest an Geheimnis. Es lässt sich nun mal nicht alles besprechen und beschreiben, was uns die gegenwärtig schwierigen Zeiten bescheren. Die fehlenden Worte in Anja Kampmanns Texten sind von uns Lesenden zu ergänzen. Sie schreibt: „Die einzigen Banditen / sind die Tage, ist das Sehnen / Unbestimmt, als gäbe es kein Glück / In weiter Ferne…“

Hören Sie den Podcast zum Thema „Corona-Lyrik“. (Quelle: rro / Kurt Schnidrig / Christina Werlen)
Hören Sie den Buchtipp zu Anja Kampmann aus der Literaturwelle im Live-Programm. (Quelle: rro / Kurt Schnidrig / Karin Imhof)

Text, Fotos und Radiosendung: Kurt Schnidrig