Erinnern Sie sich noch? Eine Zeitreise mit Nobelpreisträgerin Annie Ernaux

Das Buch „Die Jahre“ von Literatur-Nobelpreisträgerin Annie Ernaux ruft Erinnerungen an die eigene Jugendzeit wach. (Symbolbild: Aus einem Theater der Kollegiumsbühne Brig, Foto: Kurt Schnidrig)

Annie Ernaux hat den Literatur-Nobelpreis 2022 erhalten. Kaum jemand hat Kenntnis davon genommen. Annie Ernaux? Kennen Sie sie nicht? Sollten Sie aber, denn es lohnt sich, die Schriftstellerin kennenzulernen. Annie Ernaux, geboren 1940, ist eine der bedeutendsten Schriftstellerinnen unserer Zeit. Sie versteht es wie kaum eine andere Autorin, in Erinnerungen zu schwelgen, und zwar so, dass Sie, liebe Leserin, lieber Leser, nach der Lektüre von Annie Ernaux‘ Buch „Die Jahre“ begeistert ihre eigenen Erinnerungs-Alben, Fotobücher und Poesie-Alben aus dem Regal holen werden.

Beim Stöbern im eigenen Foto-Album tauchen Erinnerungen auf. Erinnern Sie sich noch, als in den 1960er-Jahren bereits im November in ihrem Garten der Schnee meterhoch lag? Als der Zirkus Knie noch mit vielen Tieren, mit einer faszinierenden Menagerie, jeweils Ende Oktober im Briger Rhonesand gastierte? Als Sie dort als kleiner Knirps beim Ponyreiten erstmals auf dem Rücken eines niedlichen Pferdchens sassen? Erinnern Sie sich noch an ihre Kindheit in einer Welt, die noch magisch sein durfte? In der es noch einen Kindergarten gab und noch keine Kinderschule und schon gar keine H1, H2…? Als Sie in der Vorweihnachtszeit heimlich Briefe an das Christkind verfassten, diese mit einem Stein beschwerten und abends aufs Fensterbrett legten? Als morgens beim Aufwachen ihr erster Blick dem Fensterbrett galt, die Brieflein verschwunden waren, pünktlich abgeholt von Himmels-Personal, vielleicht sogar vom Christkind selbst, so geräuschlos, so pünktlich und so zuverlässig wie das der „gelbe Riese“ unserer Tage niemals hinbekommt?

Annie Ernaux hat auch in Foto-Alben gestöbert. Zu jeder Fotografie ist ihr viel Bedenkenswertes eingefallen. So viel Bedenkenswertes, dass sich das Buch „Die Jahre“ liest wie ein Geschichten-Buch, das die vergangenen Jahrzehnte wiedergibt: Kindheit in der Nachkriegszeit, Algerienkrise, die Karriere an der Universität, das Schreiben, eine prekäre Ehe, die Mutterschaft, die Emanzipation der Frau, die visionären Verprechungen der Nullerjahre, das eigene Altern. Und dabei schreibt Annie Ernaux über ihr Leben, das aber auch unser aller Leben sein könnte, leben wir doch alle in der einen und derselben Welt.

„Die Jahre“ ist ein Extrakt und ein Höhepunkt aus Annie Ernaux‘ umfangreichem Oeuvre. Das Buch umfasst die Jahre 1945 bis 2007 und wird damit zu einem gesellschaftlichen Panorama der Welt nach den beiden grossen Kriegen. Wie war es möglich, in der Nachkriegs-Zeit die eigene Karriere voranzutreiben? Niemals liest sich Ernaux‘ Buch „Die Jahre“ wie eine Autobiographie. Im Gegenteil. Das Erzählte deckt sich mit unseren eigenen Erinnerungen, und zwar so, dass sich das Buch schliesslich zu einer kollektiven Autobiografie weitet. Die Schriftstellerin unterstützt mit literarischen Techniken zusätzlich die Ausrichtung des Buches als kollektiver Autobiografie. Dies tut sie zum Beispiel, indem sie nie in Ich-Form schreibt, sondern immer in der dritten Person. Dadurch betont sie die Passivität und die Machtlosigkeit von uns allen gegenüber Ereignissen, die für die Nachkriegs-Jahre prägend waren.

Die Ereignisse, an die sich Annie Ernaux schreibend erinnert, haben viele von uns selbst miterlebt. Als Lesende fühlen wir uns angesprochen. Und nicht nur das. Annie Ernaux beschreibt die vergangenen Jahrzehnte so, dass wir die Hoffnungen, die Enttäuschungen, die zunehmenden Traurigkeit und die Melancholie, die sich nach der Jahrtausend-Wende allüberall bemerkbar gemacht hat, beim Lesen herausspüren. Und als Lesende staunen wir darüber, wie ähnlich sich doch das Leben in Frankreich, in Deutschland und in der Schweiz im Laufe der Jahre entwickelt hat. So gesehen ist „Die Jahre“ von Annie Ernaux ein Erinnerungs-Buch, in dem wir alle als Protagonistinnen und als Protagonisten auf irgendeine Art und Weise vorkommen.

Text, Bilder und Radiosendung: Kurt Schnidrig