Er spaziert über die Felder draussen vor der kleinen Stadt. Es ist Ostermorgen und die Strassen sind voll mit Leuten, die das Glück des hohen Feiertags geniessen. Er vergisst seine traurige Situation und lässt sich von der Freude anstecken. Er gibt seiner Osterfreude lautstark Ausdruck mit dem Ruf: „Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!“
Liebe Leserin, lieber Leser, Sie haben bestimmt erkannt, wer hier am Ostermorgen spazieren geht? Natürlich. Es ist Faust aus dem gleichnamigen Drama von Johann Wolfgang von Goethe. Die Szene „Vor dem Tor“ ist weltberühmt und seit meiner Studentenzeit kommt mir jedes Jahr zu Ostern der Spaziergang Fausts am Ostermorgen in den Sinn.
Seine Osterfreude ist jedoch getrübt. Noch in der Nacht vor Ostern grübelt Faust in seiner Studierstube über den Sinn des Daseins nach. Die herkömmlichen Wissenschaften (Philosophie, Juristerei, Medizin und auch die Theologie) vermögen ihm nichts mehr zu geben. Einzig in der Magie sieht er einen Weg, in das Geheimnis der Welt einzudringen. Er schlägt das Zauberbuch des Nostradamus auf. Mit geheimnisvollen Formeln beschwört er den Erdgeist. Der Geist erscheint, jedoch nur, um Faust seine Nichtigkeit als Mensch gegenüber der Natur und ihre ewig schaffenden Gewalten fühlen zu lassen.
Faust meditiert verzweifelt weiter und fasst den Gedanken, die Erlösung von allen Problemen im Tod zu finden. Doch kaum hat er die Schale mit dem Gift an den Mund gesetzt, als Glockenklang und Chorgesang ihm „des Osterfestes erste Feierstunde“ künden. Überwältigt von Jugenderinnerungen und dem Auferstehungswunder des Osterfestes, fühlt er sich der Erde neu zurückgegeben.
Faust tritt nun am Ostermorgen einen Spaziergang an vor das Tor der Stadt. Der Anblick der untergehenden Sonne ruft in ihm aber aufs neue die metaphysische Sehnsucht wach, und er kommt zu der Selbsterkenntnis: „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust, die eine will sich von der andern trennen.“
„Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust“ – noch heute benutzen wir diesen Ausdruck um ein Dilemma oder einen Zwiespalt zum Ausdruck zu bringen. Das Eine tun und das Andere nicht lassen. Wer hatte in seinem Leben nicht auch schon solch eine schwierige Situation zu bewältigen! Ein Osterspaziergang eignet sich besonders gut für einen Neubeginn in einer verfahrenen Situation.