Denkanstösse für das Zeitalter der Langlebigkeit bietet das Buch „Wie wir morgen leben“ von Stephan Sigrist und Simone Achermann. Dem Buch zugrunde liegt ein Forschungsprojekt, das sich mit den Folgen unserer steigenden Lebenserwartung auseinandersetzt. Das Buch präsentiert Szenarien, wie wir unser längeres Leben planen könnten. Wir werden immer älter. Uns steht mehr Lebenszeit zur Verfügung. Dadurch eröffnen sich neue Möglichkeiten der Lebensplanung. Dies wurde mir an einem Ehemaligen-Treffen bewusst, welches kürzlich die Oberwalliser Mittelschule OMS durchführte (Bild). An solchen und ähnlichen Anlässen drehen sich die lebhaften Diskussionen um das bisherige Leben und um die verbleibende Lebenszeit.
Was so ein Ehemaligen-Treffen zu Tage fördert: Zwischen 30 und 50 war das Leben für die meisten von uns ein einziger Stress. Wir mussten in dieser Zeit beruflich erfolgreich sein, wir mussten uns weiterbilden, wir mussten unsere Kinder gross ziehen, wir mussten (oft mit schlechtem Gewissen) unsere Hobbys pflegen und Liebesbeziehungen führen, wir mussten ein aktives Sozialleben führen. Das Leben – und was die meisten von uns darunter verstehen – spielt sich auch heute noch vornehmlich in der Zeitspanne zwischen 30 und 50 ab. Bis heute folgen wir beharrlich diesem vorgespurten Pfad. Einigen ist es gelungen, einigermassen unbeschadet diese Stressphase zu überstehen.
Das Buch „Wie wir morgen leben“ kommt aber zum Schluss: Die Folgen dieser Stressphase zwischen 30 und 50 sind Krankheiten, Scheidungen und Burnouts. Wir müssten radikal umdenken. Warum? Durften Schweizerinnen und Schweizer um 1900 hoffen, knapp 50 Jahre zu leben, beträgt die Lebenserwartung heute über 80 Jahre, immer mehr Menschen erreichen gar das 100. Lebensjahr. Was bedeutet das für den Einzelnen? Meistens wird nur über die Jahre nach der Pensionierung geredet, das Bild von wohlhabenden, selbstbestimmten Senioren, auch Golden Ager genannt, macht die Runde. Was wir oftmals vergessen: Länger leben heisst nicht einfach länger alt sein. Wir können und müssen das gesamte Leben von Grund auf anders planen.
Das Buch „Wie wir morgen leben“ liefert Denkanstösse und Inspirationen für alternative Lebensmodelle. Ein erster wichtiger Entscheid betrifft die Möglichkeit, die Zeit für Kind und Karriere bewusst zu trennen. Dank den Fortschritten der Reproduktionsmedizin wie künstlicher Befruchtung oder Social Freezing (Einfrieren fruchtbarer Eizellen) wird es möglich, sich zuerst beruflich zu verwirklichen und die Kinder erst ab 50 zu bekommen. Bei älteren Eltern sorgen altersverzögernde Technologien dafür, dass die Fitness während der ersten Kinderjahre bestehen bleibt. Kinder im Alter sind trotz Anti-Ageing eine Herausforderung, glauben die Autoren des Buches.
Auch die Berufswahl soll in Zukunft ihren Endgültigkeitscharakter verlieren. Das Modell „Ein Leben, ein Beruf“ ist wohl ein Auslaufmodell. Das lange Leben wird es uns in Zukunft ermöglichen, in unterschiedlichen Lebensphasen auch unterschiedliche Fähigkeiten auszuspielen.
Die Langlebigkeit erlaubt uns auch mehr Selbstständigkeit. Wir haben mehr Zeit, losgelöst von den bestehenden Strukturen, eigene Produkte und Ideen zu verwirklichen. Die Pensionszeit müsste dabei neu überdacht werden. Statt die lange Erholungszeit an das Ende des Lebens zu verschieben, sollten wir künftig regelmässige Erholungsphasen einlegen, beispielsweise ein Sabbatical alle sieben Jahre zum Tanken von neuen Energien und Inspirationen. Finanziert werden könnten die Auszeiten durch einen späteren Antritt der Pension.
Die längere Lebenszeit schafft in der Liebe bessere Voraussetzungen für sequenzielle Partnerschaften. Das Konzept, dass sich zwei Menschen binden, bis dass der Tod sie scheidet, wird von vielen jetzt schon in Frage gestellt. Gemäss den Autoren der Studie wird das Risiko, dass sich zwei Liebende über die vielen Jahre entfremden, weiter steigen, je länger unser Leben dauert.
Nicht alle Szenarien, welche die Autoren Simone Achermann und Stephan Sigrist in ihrem Buch vorschlagen, können überzeugen. Dazu gehört etwa die Empfehlung, Beziehungen mit Maschinen zu führen. Einen Freundschafts-Roboter zu mieten und mit ihm das Bett zu teilen, wird wohl nur für beziehungsmüde und frustrierte Singles eine Option sein.
Denkanstösse und Inspirationen für ein langes, kreatives und fantasievolles Leben sind angesagt und gefragt. Mehr Lebensjahre erfordern mehr Mut zur Gestaltung des Lebens.
Literaturangabe: Stephan Sigrist und Simone Achermann: Wie wir morgen leben – Denkanstösse für das Zeitalter der Langlebigkeit. Verlag NZZ Libro.
Zum Bild: Ehemaligen -Treffen der OMS Brig. Foto: Paul Seiler.