Vierzig Jahre lang habe ich als Sprachlehrer junge Frauen auf Berufe vorbereitet, die auch heute noch als typische Frauenberufe gelten, weil sie dem Weiblichen anscheinend besonders nahestehen: Kindergärtnerinnen, Erzieherinnen, Pädagoginnen, Pflegefachfrauen, ganz allgemein Frauen, von denen in ihrem Berufsalltag eine hohe Sprachkompetenz verlangt wird. In der Freizeit habe ich einen Frauenchor geleitet und dirigiert (Bild), ich habe als Regisseur mit Schauspielerinnen Theaterstücke erarbeitet und auf die Bühne gebracht, und ich habe Sängerinnen auf ihren Part in Musiktheatern eingestimmt.
Eine liebe Kollegin liess kürzlich mir gegenüber die schalkhafte Bemerkung fallen, ich müsse als Sprachprofessor wohl zumindest eine weibliche (Zwitter-)Seite in mir haben. Denn auch mein Beruf als männliche Germanistin und Sprachprofessorin (!) zählt mittlerweile zu den weiblichen Domänen. Auf den Punkt gebracht lässt sich sagen, dass sich meine Zusammenarbeit mit Männern während meines gesamten bisherigen Berufslebens einzig auf die Männer in der Chefetage beschränkte, auf meine Chefs also.
Diese Frauenpower in vielen Bereichen unseres Lebens erforderte den Einsatz von Einzelkämpferinnen wie Iris von Roten. Am kommenden 14. Juni erscheint eine neue Biografie über Iris von Roten, Autorin des feministischen Standardwerks „Frauen im Laufgitter“. Zur Erinnerung: Diese feministische Streitschrift erschien bereits 1958. Darin analysierte Iris von Roten akribisch die gesellschaftlichen Verhältnisse im Griff der patriarchalischen Strukturen. Das damals als „revolutionär“ und „rebellisch“ eingestufte Gedankengut ist in vielem auch heute noch zutreffend. Noch immer gibt es typische Frauenberufe. Und noch immer werden in Berufen, die dem Weiblichen angeblich nahestehen, tiefe Löhne bezahlt. Damals monierten die Literaturkritiker etwas zweideutig: Eine Frau kommt zu früh! Eindeutig war damit gemeint, Iris von Roten komme mit ihrer Streitschrift zu früh. „Eine Frau kommt zu früh“ – das war denn auch der Titel eines Buchs von Yvonne-Denise Köchli aus dem Jahr 1992.
In Anlehnung an die Literaturkritik von damals heisst die neue Biografie über Iris von Roten nun „Eine Frau kommt zu früh – immer noch?“ Beim neuen Buch handelt es sich um eine überarbeitete und erweiterte Fassung von Yvonne-Denise Köchlis Buch „Eine Frau kommt zu früh“ aus dem Jahr 1992. Die Bloggerin Anne-Sophie Keller hat einen zweiten Teil dazu erarbeitet, in dem sie untersucht, welche Bedeutung von Rotens Ideen- und Gedankengut in der heutigen Zeit noch hat. Wie bereits im Vorfeld der Vernissage vom 15. Juni im Literaturhaus Zürich durchsickerte, lässt die neue Biografie manchen aktuellen Bezug ausser Acht, so etwa – wie oben beschrieben – den Zusammenhang von typischen Frauenberufen und tiefen Löhnen.
Iris von Roten hatte in ihrem Ehemann Peter von Roten einen starken Verbündeten. Er rechnete mit dem herrschenden Männerkollektiv ab, vorab in der katholisch-konservativen Walliser Politszene. Stolz sagte Peter von Roten seiner Gattin damals in den Fünfzigerjahren eine Zukunft an der Seite von Ikonen wie Simone de Beauvoir voraus. Leider war dem Ehepaar von Roten dieser Triumph damals in den 1950er Jahren nicht vergönnt. Im Gegenteil. Sie lösten einen Sturm der Empörung aus.
Und heute? Sowohl die Ideen als auch der Lebensstil von Iris von Roten provozieren wohl auch heute noch: Statt ihren Mutterschaftspflichten nachzukommen, verreiste sie unmittelbar nach der Geburt ihrer Tochter. Es heisst, ihr Hobby, das Schreiben, sei ihr wichtiger gewesen. Und Hausarbeit verrichten? Vergiss es! Und dass die von Rotens eine offene Beziehung lebten und sich gegenseitig von ihren erotischen Abenteuern berichteten, das passt schon wieder fast in unsere Zeit.
Wenn am 15. Juni im Literaturhaus Zürich das neue Buch über Iris von Roten und ihre heutige Bedeutung vorgestellt wird, dürfte die Diskussion zu einer überaus spannenden Frage eröffnet sein: Eine Frau kommt zu früh – immer noch?
Zum Bild: Frauenpower allüberall, zum Beispiel im „Jungen Musiktheater Ober- und Mittelwallis“ unter der Leitung von Kurt Schnidrig. Foto: Michael Schnidrig.