Beim Sekundenstil handelt es sich um eine Erzähltechnik, die erstmals von den Naturalisten verwendet wurde. Mit Hilfe dieser Technik wird erzählt, was Sekunde für Sekunde passiert. Das Ziel ist die möglichst genaue Abbildung der Realität. Es geht um eine exakte Wiedergabe von Bild und Ton, also um photographische und phonographische exakte Wiedergabe der Wirklichkeit. Das Drehbuch zum Film „Dunkirk“ ist – zumindest teilweise- im Sekundenstil geschrieben. Der Film „Dunkirk“ kommt ab dem kommenden Donnerstag in die Kinos. Regisseur Christopher Nolan und seine Frau Emma Thomas rekonstruieren im Film die dramatische Rettungsaktion der Alliierten im Zweiten Weltkrieg.
Regisseur Christopher Nolan gilt als Perfektionist. Zusammen mit seiner einstigen Studienkollegin Emma Thomas erzählt er die Schlacht von Dünkirchen aus drei Perspektiven: Aus der Sicht eines Piloten, eines Schiffskapitäns und eines Soldaten. Er „trachte nach einer subjektiven Erzählweise, die den Zuschauer mitten ins Geschehen wirft“, sagte er in einem Interview gegenüber Christian Jungen von der NZZ (NZZ am Sonntag, 23. Juli 2017). „Ich besitze mehrere Uhren und habe ihr Ticken aufgezeichnet und die Aufnahmen Hans (erg.: Hans Zimmer, Komponist von zahlreichen Filmmelodien) gegeben, damit er eine Grundlage hatte.“ Und weiter: Er habe das Drehbuch nach einem musikalischen Rhythmus geschrieben. Er habe beim Schreiben und bei der Auswahl des Soundtrack das Ticken der Uhr betont.
Diese Erzähltechnik ermöglicht es, dass das gesamte Umfeld, in dem sich die Figuren bewegen, minutiös mit den überlieferten Ereignissen übereinstimmt. Die Zuschauer werden so mitten ins Kriegsgeschehen vom Mai 1940 hinein versetzt. Die besondere Erzähltechnik, mit dröhnenden und aufwühlenden Klängen und Tönen unterlegt, macht „Dunkirk“ zu einem experimentellen Autoren-Film, der vom Betrachter starke Nerven erfordert.
Persönlich würde ich die besondere Erzähltechnik von Regisseur Christopher Nolan in die Nähe des Sekundenstils rücken, der in der Epoche des Naturalismus um 1900 angesagt war. Die Bezeichnung Sekundenstil wurde vom Literaten Hanstein erfunden. Die Technik des Sekundenstils kam beispielsweise beim Milieudrama „Bahnwärter Thiel“ von Gerhart Hauptmann oder „Papa Hamlet“ von Holz / Schlaf zur Anwendung.
Passend zum Sekundenstil findet sich in der Literatur die vorwiegend personale Erzählweise und der sogenannte innere Monolog. Ziel der naturalistischen Autoren war es, mit Hilfe des Sekundenstils eine exakte Darstellung der Dialoge mit allen Wörtern, Wortfetzen, Pausen, Dialekt etc. zu erreichen. Beim Schreiben wurde darauf geachtet, dass eine annähernd zeitdeckende Erzählung resultierte (Erzählzeit = erzählte Zeit) bis hin zum Zeitlupeneffekt (Erzählzeit länger als erzählte Zeit).
Darf ich diesen Sachverhalt mit einem Beispiel illustrieren? In der folgenden Textstelle aus „Bahnwärter Thiel“ von Hauptmann entspricht die Erzählzeit der erzählten Zeit. Die zitierte Passage ist in etwa 20 Sekunden zu lesen und beschreibt einen Vorgang, der etwa 20 Sekunden dauert.
„Der Zug wurde sichtbar – er kam näher – in unzählbar sich überhastenden Stössen fauchte der Dampf aus dem schwarzen Maschinenschlote. Da: ein – zwei – drei – milchweisse Dampfstrahlen quollen kerzengerade empor, und gleich darauf brachte die Luft den Pfiff der Maschine getragen. Dreimal hintereinander, kurz, grell, beängstigend. Sie bremsen, dachte Thiel, warum nur? Und wieder gellten die Notpfiffe schreiend, den Widerhall weckend, diesmal in langer, ununterbrochener Reihe.“ (Gerhart Hauptmann: Bahnwärter Thiel, Kapitel III).
Eine spannende Erzähltechnik! Gespannt sein darf man auch auf die Erzähltechnik im aktuellen Kinoereignis „Dunkirk“.
Zum Bild: Schreiben im Sekundenstil. Foto: Kurt Schnidrig.