Manchmal sollte man auf Distanz gehen. Die Welt und das Leben von oben betrachten. Der Historiker Schlözer empfahl Ende des 18. Jahrhunderts, auf einen hohen Turm zu steigen, um die Weltgeschichte besser erfassen zu können. Das reicht aber heute nicht mehr. Heute braucht es mehr. Ich empfehle einen Boeing 787 Dreamliner. Am besten fliegt man in der Business Class des Dreamliners (Bild). Da hat man einen persönlichen Raum für alle Bedürfnisse. Arbeitsfläche, Schlafgelegenheit, Freiraum. Und vor allem hat man die nötige Flughöhe, um Distanz zu gewinnen. Man fliegt innert einer Woche nach Arabien und China. Mit Zwischenlandung in Katar und Hongkong. Und wenn man dann zur Landung ansetzt auf Schweizer Boden, dann sind die grossen Probleme plötzlich nur noch kleine Problemchen.
Auf einen hohen Turm steigen, um die Weltgeschichte besser erfassen zu können, war früher. Mit dem Boeing 787 Dreamliner aufsteigen in eine Höhe von 12’000 Kilometern und mit einer Geschwindigkeit von 920 km/h dem Weltgeschehen entfliehen, das ist heute. Dazwischen gibt es noch die Flughöhe der Adler.
„Die Flughöhe der Adler“ – das ist der Titel eines aktuellen Buch-Bestsellers. Adler gleiten erhaben und in grosser Höhe durch die Lüfte. Aus der Sicht des Betrachters wirkt der Flug des Adlers äusserst ruhig und gelassen. Doch die Adleraugen sind auf das Geschehen weit unten am Boden gerichtet. Adler haben den Blick fürs Ganze. Trotzdem beobachten sie genau, was sich unten am Boden abspielt.
Unten am Boden findet das Weltgeschehen statt. Man kommt sich klein und unscheinbar vor im unübersichtlichen Getümmel einer globalisierten Welt. Trotzdem versuchen wir, den Überblick zu behalten und wenigstens bis zur nächsten Biegung des Weges zu schauen. Das gelingt heute nicht allen von uns. Und viele sind schon lange nicht mehr in der Lage, die grossen Zusammenhänge zu erfassen.
Wenn es darum geht, Zusammenhänge zu erfassen, kommen uns die Philosophen und Historiker zu Hilfe. Sie versuchen Sinn zu stiften in einer chaotischen Welt. Die Geschichtsschreibung ist genau genommen nichts anderes als ein Versuch, die Welt zu erklären.
Als einer der renommiertesten Geschichtsschreiber unserer Zeit gilt Jürgen Osterhammel. In seinem neusten Buch mit dem Titel „Die Flughöhe der Adler“ wirft er – mit der nötigen Distanz – einen neuen und faszinierenden Blick auf die wesentlichen Dinge, die unsere globale Welt beeinflussen und bestimmen. Den berühmten „distanzierten Blick“ des Historikers richtet er dabei auf das Gegenwärtige. Wenn wir die Gegenwart verstehen, begreifen wir auch, was in der Vergangenheit geschehen ist.
Was bedeutet eigentlich „der Westen“? Warum nennt man uns „westliche Menschen“ und was unterscheidet uns von den anderen Menschen auf dieser Welt? Der „Aufstieg Asiens“ ist heute in aller Leute Munde. Doch was ist damit wirklich gemeint und welche Folgen hat der Aufstieg Asiens für uns Europäer? Wo sind heute die „Grenzen“ des Machbaren erreicht? Und wo sollten wir Brücken zueinander bauen? Das Buch endet mit einer Begegnung von Tiger und Mensch, was einer kleinen Kolonialgeschichte gleichkommt.
Der Autor Jürgen Osterhammel liefert uns Erklärungen, die er als Historiker wie im Adlerflug und mit der nötigen Distanz erkannt und eingeordnet hat. Es ist dies ein Adlerflug, der weit über allen Kriegen, Krisenherden und Querelen unserer geschundenen Gegenwart seine ruhigen Kreise zieht.
Wer dieses Buch liest, sei es nun mit den Augen eines Adlers, von einem hohen Turm herab oder gar aus der Perspektive eines Boeing 787 Dreamliners, der wird unsere Gegenwart besser verstehen.
Text und Foto: Kurt Schnidrig
Literatur: Jürgen Osterhammel: Die Flughöhe der Adler – Historische Essays zur globalen Gegenwart. Verlag C.H.Beck, 2017. 300 Seiten.