Weshalb geht man ans Open Air? Wegen der Party. Vielleicht auch wegen der Musik. Aber wegen den Texten? Wohl eher nicht. Auf jeden Fall reagierten meine zwei jungen Begleiterinnen Alicia und Valerie amüsiert auf meine Frage, ob es an einem Open Air auch gute Songtexte gebe. Dabei ist meine Frage nach guten Songtexten gar nicht so abwegig. Hat nicht kürzlich Bob Dylan sogar den Literaturnobelpreis erhalten für seine Songtexte? Spätestens seitdem Dylan seinen Literaturnobelpreis abgeholt hat, müsste eigentlich klar sein: Songtexte sind auch Literatur.
Einen heissen Tipp verdanke ich meinen zwei Begleiterinnen am Open Air. Gute Texte seien zwar Mangelware, aber „Milky Chance“ hätten einigermassen gute Songtexte, die sollte ich mir anhören, rieten mir meine Begleiterinnen. Das Kasseler Duo „Milky Chance“ besteht aus Clemens Rehbein und Philipp Dausch. Die beiden waren bereits als Schüler ein Duo. Im Keller unter dem eigenen Kinderzimmer sassen sie früh hinter einem veralteten Laptop und schrieben ihre eigenen Songtexte. Beim Hören dieser Songtexte stellt sich bei mir der Eindruck von versteckter Genialität ein. Zwar sind die Strukturen simpel, die Beats geradlinig. Die Texte jedoch haben es in sich. Allerdings habe ich sie vorerst aus dem Englischen ins Deutsche übersetzen müssen.
Ausgekoppelt aus dem Album „Blossom“ ist der Song „Cocoon“. Ein Kokon ist ein Rückzugsort. Schmetterlinge schlüpfen zum Beispiel aus einem Kokon. Eine Metapher, eine schöne literarische Figur also bereits im Titel. Und auch der Rest ist ganz okay: „Ich weiss, du musst dich fühlen wie mit Ruinen konfrontiert (…) Und ich weiss nicht, wie ich mit mir selbst auskommen soll, wenn ich geschwächt bin. Lass mich bluten anstatt dich. Lass uns zurück in unseren Kokon gehen. Denn alles, was wir brauchen, ist zu entkommen“. Der Text hebt sich ab von den sonst üblichen Selbst-Beweihräucherungen der Popstars. Das Erzähler-Ich in diesem Songtext ist umwerfend ehrlich, ist sich der eigenen Schwächen und Unzulänglichkeiten bewusst. Das Erzähler-Ich legt auch eine gehörige Portion Empathie an den Tag, etwa im wiederkehrenden Vers „Ich sehe, dein Herz blutet auch, lass mich bluten anstatt dich“.
Ebenfalls vom Duo „Milky Chance“ stammt der Song „Stolen Dance“. Das Erzähler-Ich in diesem Songtext trauert der verlorenen Zeit nach. Irgendwelche netten Leute haben das Liebespaar getrennt, so haben die beiden Verliebten viel wertvolle Zeit verloren, die sie zusammen hätten verbringen können. Um sich über die verlorene Zeit hinweg zu trösten, wollen die beiden unglücklich Verliebten zusammen tanzen gehen: „Wir können es auf der Tanzfläche ausleben. Du hast noch niemals zuvor so getanzt. Aber wir reden nicht darüber. Wir tanzen den Boogie die ganze Nacht lang und wir sind „stoned“ im Paradies. Aber wir sollten nicht darüber reden“.
Zwei Dinge sind mir beim Song „Stolen Dance“ aufgefallen. Zum einen ist der Titel falsch gewählt. Da steht nicht drauf, was drin steht. Ein Liebespaar trauert der Zeit nach, die es nicht gemeinsam verbringen konnte; jetzt soll ein Tanzabend darüber hinweg trösten. Also müsste der Titel lauten „Stolen Time“, nicht „Stolen Dance“. Und: Zwar hat der Song ein Happy End, denn die beiden Liebenden sind am Schluss „stoned im Paradies“. Im Englischen bedeutet „stoned“ einerseits „versteinert“. Andererseits bezeichnet „stoned“ auch einen Zustand, der durch Drogen hervorgerufen werden kann. „stoned“ könnte übersetzt werden mit „verladen mit Drogen“.
Schöne Bilder und Vergleiche finden sich im Songtext „Stolen Dance“: „Kältester Winter für mich. Keine Sonne scheint mehr. Das einzige, was ich fühle, ist Schmerz. Hervorgerufen durch deine Abwesenheit. Ungewissheit bestimmt meinen Verstand. Ich finde den Weg hier nicht heraus.“
Auch wenn sich die Inhalte vieler Songtexte ähnlich sind, lassen sich doch Qualitäts-Unterschiede ausmachen. Songtexte mit rhetorischen Figuren, Bildern und Vergleichen wirken poetisch. Songtexte mit einem einfühlsamen und empathischen Ich-Erzähler wecken Anteilnahme und Mitgefühl auch beim Hörer und der Hörerin.
So gesehen, haben die Songs des Duos „Milky Chance“ durchaus literarische Qualität. Auch wenn sie vielleicht nicht die ganz grosse Literatur repräsentieren. Musikalisch sind die Songs leicht zugänglich. Das Duo setzt auf schrammelige Gitarren und straighte House-Beats. Künstlerisch und literarisch allerdings sind die Songs harmlos. Das reicht für eine grandiose Pop-Platte. Nicht jedoch für einen Literatur-Preis.
Text und Foto: Kurt Schnidrig