Charles Stünzi: Sieben Sonette

Während Jahrzehnten haben wir uns wie zwei Dampfschiffe durch die Wogen einer stürmischen See gekämpft. Mit aller Energie stellten wir uns als Literaten in den Dienst der bildungswilligen Walliser Jugend. Beide durften wir mit unseren Lese- und Schreibprojekten auf dem altehrwürdigen Briger Bildungshügel die jungen Männer und Frauen für die Literatur, und insbesondere für das Schreiben begeistern. Charles Stünzi als Professor am Kollegium Spiritus Sanctus, und ich gegenüber im Institut St. Ursula als Lehrer am Oberwalliser Lehrerseminar. Meine Hochachtung vor Kollega Charles Stünzi war immer immens. Was ich bedauere ist einzig, dass wir uns kaum je getroffen hatten, dass sich unsere Wege kaum je kreuzten. Umso grösser die Freude jetzt:  Für die Leserinnen und Leser meines Literatur-Blogs stellt Charles Stünzi sieben wundervolle Sonette zur Verfügung.

Mit seinen lyrisch-poetischen Veröffentlichungen und auch mit seinen kunstvollen Prosatexten überrascht und begeistert Charles Stünzi die Literaturwelt seit den 90er-Jahren: Bereits 1995 machte er mit „Mensch, oh Mensch!“ auf sein grosses dichterisches Potenzial aufmerksam. In Zusammenarbeit mit Peter Russell folgte 1996 „Alles ist beseelt“, und im gleichen Jahr erschien das Werk „Rückblicke“ mit René Marti. Unvergessen ist der Band „klarlack-tupfer“ aus dem Jahr 1999. Die Zusammenarbeit mit Hannes Taugwalder krönte Charles Stünzi 1999 mit dem wundervoll einfühlsamen Werk „Kompass der Seele“. Zahlreiche Publikationen in Anthologien und Zeitschriften folgten. Charles Stünzi gewann den 1. Preis beim Literaturwettbewerb der Zeitschrift Agenda 1997 und ebenfalls den 1. Preis beim Literaturwettbewerb InnenSeite 2003. Erst kürzlich gab er als Co-Präsident der Walliser Autorinnen und Autoren deutscher Sprache WAdS die Anthologie „Talwind II“ heraus. Mit dem schönen Buch schenkte er der Öffentlichkeit einen aussagekräftigen Überblick über das zeitgenössische Oberwalliser Literaturschaffen.

Charles Stünzis Sonette stehen in einer grossen Tradition. Der berühmteste Sonett-Zyklus aller Zeiten stammt wohl aus der Feder von William Shakespeare. An der Übersetzung der „Shake Speare’s Sonnets“ aus dem Jahr 1609 haben bis heute viele Lyriker Mass genommen. Die Originalform des Sonetts prägte Petrarcas „Canzoniere“. Das italienische Vorbild hat viele Lyriker beeinflusst. Demnach besteht ein Sonett aus 14 metrisch gegliederten Verszeilen, die in vier Strophen eingeteilt sind. In Deutschland führten Sonett-Liebhaber und Sonett-Gegner lange Zeit einen veritablen Krieg gegeneinander. Johann Wolfgang von Goethe entschied diese Auseinandersetzung, indem er sich mit grossem Erfolg an Sonetten versuchte.

Doch genug der Ausflüge in die Literaturgeschichte. Freuen wir uns über die sieben Sonette von Charles Stünzi, die ich nachfolgend gerne und mit grosser Freude veröffentliche. Vielen herzlichen Dank, lieber Charles.

Charles Stünzi: Sieben Sonette

Viktorianisches Rezept

 Sich grad zu halten heisst, ein Mann zu sein.

Nie darf ein Unglück dich hinunterdrücken

Und keine Freude dich zu sehr beglücken,

Nie sollst du jammern, weinen, jubelschrein.

Wenn dich das Schicksal schlägt mit schwerem Stein,

Dann stemm ihn hoch und trag ihn auf dem Rücken!

Und wenn dich packt unsägliches Entzücken,

Dann unterdrück es gleich von vornherein!

Die Schwierigkeiten meistert man allein:

Hin über Schluchten bau dir selbst die Brücken!

Wenn du kaum gehen kannst, wirf weg die Krücken!

Lass niemals jemand in dein Herz hinein!

Die steife Oberlippe soll dich schmücken

Als Mann, der nie bereit ist, sich zu bücken.

 

Das ganze Ich

Den fernen Raum des Gestern ich verlasse,

Die Bücher der Geschichte im Regal,

Das Elternhaus, das Schulhausareal.

Die erste Liebe schemenhaft verblasse.

Das weite Morgen lass ich hinter mir,

Die Pläne all, die ungestümen, hehren,

Die Absicht, mich zu Bessrem zu bekehren.

Des nächsten Tags Geschäfte ich negier.

Dem Heute will ich leben, ganz und gar,

Das Nun verschlingen, ohne mich zu sorgen

Um vorn und hinten, gestern oder morgen,

Des jetzgen Augenblickes nur gewahr.

Doch kann ich’s nicht. Mein Morgen und mein Gestern

Sind meines Heute untrennbare Schwestern.

 

Diagnose

Zur Müllhalde verkommen unsre Erde,

Der Point of no Return längst überschritten,

Die Fugen, Risse fortan nur zu kitten

Für kurze Zeiten noch mit Trotzgebärde.

Die Menschlichkeit fast ganz und gar verrottet,

Dem Egoismus und der Hybris hingegeben.

Ums goldne Kalb dreht sich der Reichen Leben

Im Kreis der Börse. Hilflos und verspottet

Schaut zu die abgefuckte Schar der Armen

Und streitet sich um schlechtbezahlte Stellen,

Erhofft vergeblich Mitgefühl, Erbarmen.

Wo findest du der Lebensfreude Quellen,

Die heilenden, die rettenden, die warmen,

Wo Menschen darben, Abfallberge schwellen?

 

Sonettes Liebesgedicht

Es ist schon alles tausendmal gesagt

Von Gott und Welt, vom Leben und vom Tod,

Vom Sonnenaufgang und vom Abendrot,

Selbst, was in diesen Zeilen wird geklagt.

Und die Natur ist auch längst ausgedichtet.

Symbole, Bilder sind oft ausgelatscht,

In Trivialromanen wird getratscht

Mit Worten, die mal warn der Kunst verpflichtet.

Längst abgegrast ist auch das Feld der Liebe.

Sind Liebesdichter nicht gemeine Diebe,

Die schamlos alte Dichterworte stehlen?

Darum verdient ich Tadel und auch Hiebe,

Wenn ich von meiner Liebe jetzt noch schriebe.

Und doch: Ich liebe dich, kann’s nicht verhehlen!

 

Carpe diem

Übersetzung des Sonetts Midsummer Music von Peter Russell (1921 – 2003)

Sommermusik, was kündigst du, ich frag,

Vom lichten Lenz, ersehnt von Kinderschar?

Rotgelber Mond nimmt ab, und Glockenschlag

Singt sanft im irren Wald, der Worte bar.

Jetzt greif die Frucht! Die Pflaumen, Äpfel pflück

Mit flinker Hand, bevor die Zweige brechen!

Dein Füllhorn blase, deines Sommers Glück,

Bevor dein Herbst hereinbricht unterm Rechen!

Die Früchte segne (gesegnet schon zuvor),

Die Erde warm, der Kinder Liegestatt,

Und all die Blumen, drängend um dein Tor!

Denk nicht an Winters Antlitz, bleich und matt,

Nicht an den Keim, der schläft in Kern und Flor!

Nein, kost die Frucht, solang der Sommer satt!

 

Erlösung

Übersetzung des Sonetts Redemption von George Herbert (1593-1633)

Seit langem Pächter eines Herrn mit Macht,

Erfolglos stets, beschloss ich, kühn zu sein

Und ihn zu bitten, mir in neuer Pracht

Zu günstigerem Zins das Land zu leihn.

In seiner Himmelsburg wollt ich ihn finden.

Dort sagt man mir, er sei auf einer Reise,

Um Land auf Erden nun an sich zu binden,

Das er schon lang gekauft zu teurem Preise.

Ich kam zurück und suchte ihn an Stellen,

Die seiner hohen Herkunft würdig waren,

In Stadt, Theater, Park und beim Caesaren.

Zuletzt hörte ich Lachen, grobes Gellen

Von Dieben, Mördern. Dort erblickte ich ihn.

Er sprach „Es ist gewährt.“ und schied dahin.

 

Sonett 18

Übersetzung von Sonnet 18 von William Shakespeare (1564-1616)

Soll ich dich messen an des Sommers Zeit?

Viel schöner bist du, und du hältst mehr Mass.

Der Wind erschüttert Knospen, sturmbereit,

Und allzu schnell verdorrt des Sommers Gras.

Manchmal erstrahlt zu heiss der Sonne Rund,

Und oft verdunkelt ist ihr güldner Schein,

Und alle Schönheit kennt die Todesstund,

Entstellt durch Unbilden und Alterspein.

Doch dein endloser Sommer bleibt sich gleich,

Verliert die Schönheit nicht, die du besitzt.

Auch drohet nicht des Todes Schattenreich

Dir, Teil der Zeit, auf ewig eingeritzt.

Solange Menschen leben, Augen sehn,

So lang lebt dies, und so bleibst du bestehn.

 

Charles Stünzi: Sieben Sonette

Text: Kurt Schnidrig

Foto: zvg