„Das Flüstern des Wassers“ war der grosse Abräumer gestern Nacht in Los Angeles. Im Oscar-Rennen entschied das Märchen die beiden Königs-Kategorien „Bester Film“ und „Beste Regie“ für sich. Guillermo del Toro konnte mit seinem Fantasystreifen über 90 Prozent der Kritiker überzeugen. Die Geschichte gehört in die Gattung der Kreaturenmärchen. Del Toro, der auch am Drehbuch mitschrieb, konnte sich in diesem Genre an bekannte Märchenmotive anlehnen. Elemente aus Die Schöne und das Biest lieferten die Vorgabe. Shape of Water kommt auch als Reminder von Steven Spilbergs E.T. – Der Ausserirdische rüber. Die exzentrische Liebesgeschichte, gespickt mit phantastischen Einsprengseln, markiert zudem eine Rückkehr des Melodrams.
Das Märchen wirkt wie eine Salbe gegen die heutige Welt, aus der wir jeden Morgen mit schlechten Nachrichten aufwachen, meint der preisgekrönte Regisseur del Toro zu seinem Werk. Tatsächlich ist sein Märchen gedacht als Tranquilizer in unruhigen Zeiten. Der Film stärkt den Glauben an die Menschlichkeit in dieser Welt. Dies wohl ist das ganz grosse Verdienst der Autoren. Sally Hawkins als die Protagonistin Elisa bringt die Botschaft einer neuen Humanitas glaubwürdig rüber. In einer Zeit, in der die Toleranz gegenüber anderen Rassen und gegenüber anderen Lebensformen im Schwinden ist, weckt die Geschichte wieder Verständnis und Empathie für das Andersartige.
Der Geschichte wohnt ein gutes Stück Existenzphilosophie inne. So sanft das Element Wasser auch sein kann, ist es zugleich auch die stärkste und verformbarste Kraft des Universums. So wie das Wasser sei auch die Liebe, erklärte Regisseur del Toro in einem Interview mit dem Magazin Cicero: „Auch die Liebe kann jede Form annehmen, egal ob für einen Mann, eine Frau oder eine Kreatur.“ So weibelt denn die Geschichte auch für die vielen unkonventionellen Liebesbeziehungen unserer Tage.
Die Geschichte spielt zur Zeit des Kalten Krieges. Elisa arbeitet als Reinigungskraft in einem geheimen Labor der US-Regierung. Im Wettstreit mit dem sowjetischen Raumfahrtprogramm wollen die USA so schnell wie möglich Menschen ins All befördern. Am Amazonas haben Wissenschaftler ein Wesen, halb Mensch und halb Tier, fangen können. Elisa ist augenblicklich fasziniert vom Mischwesen. Selber ist sie stumm und geprägt von einer schwierigen Kindheit, denn als Kleinkind wurde sie am Flussufer ausgesetzt und wuchs als Waise auf. Elisa spielt mit der Kreatur, bringt ihr Essen mit und unterrichtet sie in Gebärdensprache. Plötzlich sind auch die Sowjets an der Kreatur interessiert. Von amerikanischer Seite wird die Vivisektion des Geschöpfs angeordnet, während die Sowjets das Mischwesen mit Gift töten wollen. Elisa beschliesst, zusammen mit dem Wesen zu fliehen und ihm im Meer die Freiheit zu schenken. Die Wissenschaftler aber spüren „das Objekt“ auf und verletzen es schwer. Doch das Wesen findet Rettung in der Wasserwelt und es nimmt Elisa dorthin mit. Sie wird seinesgleichen…
Leider kommt die Geschichte nicht ohne drastische Gewaltszenen aus. In den deutschsprachigen Ländern ist der Film trotzdem ab 16 freigegeben. Dies vor allem deshalb, weil die Geschichte als irreal und als Fantasieprodukt wahrgenommen wird. Dies soll die emotionale Distanz zu den dramatischen Geschehnissen auf der Leinwand vergrössern. Zudem versprechen humorvolle Elemente und die romantische Liebesgeschichte eine emotionale Entlastung.
Die Oscars hat sich del Toro redlich verdient. Er erfüllt alle Vorgaben, die einen Oscar-Gewinn ermöglichen, vor allem jene, dass ein Oscar für „hard work“ des Regisseurs vergeben werden soll. Del Toro hatte selber am Drehbuch mitgeschrieben. Er war auch daran beteiligt, Ideen und Ausstattung für die Kreatur zu entwickeln. Zwei Jahre lang finanzierte er die Produktion gar aus der eigenen Tasche. Eigentlich hätte er den Film gern in Schwarzweiss gedreht. Doch 20th Century Fox war dagegen. Was zeigt: Auch ein Star-Regisseur wie del Toro ist Teil der Filmindustrie.
Text und Foto (Symbolbild): Kurt Schnidrig