Eine volle Kirche, kein freier Platz mehr auszumachen, auch das gibt es. Allerdings nur dann, wenn sich jemand etwas einfallen lässt. Wenn zum Beispiel eine Musikband ein schönes Konzert gibt (Bild). Das sind schöne Ausnahmen. Sonst aber sind die Kirchen fast leer. Auch jetzt in diesen Tagen kurz vor Ostern. Pater Martin Werlen ist mit seinem neuen Buch auf Lesetour, und er braucht eine deutliche Sprache: „Zu spät!“
Zu spät für die Kirche, zu spät für den Glauben. Alles Schönreden hilft jetzt nicht mehr. Pater Martin Werlen nimmt kein Blatt vor den Mund. Es ist zu spät! Der Grund dafür sei die grosse Entfremdung zwischen der Kirche und den Menschen, schreibt der Autor. Die paar gläubigen Schäfchen, die sich noch in die Kirche verirren, sind enttäuscht. Viele können mit dem, was ihnen da erzählt wird, nicht mehr viel anfangen. Die paar Aufrechten, die sonntags noch in den Kirchenbänken sitzen, träumen von früher, sie haben die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben, dass es doch wieder so kommen möge, wie es früher mal war.
War früher wirklich alles besser? Beim Lesen des provokativen Buches lässt sich tatsächlich trefflich von früher träumen. Früher, als beispielsweise die Karwoche noch ein absoluter Höhepunkt in unserem Schüleralltag war. Morgens früh um 07.00 Uhr war Schülergottesdienst. Wer zur Messe ging, der ging auch zur Kommunion. Zwei Stunden vorher durfte nichts mehr gegessen werden. Beichten im Beichtstuhl beim Herrn Pfarrer persönlich. Stundengebet nicht selten um Mitternacht oder in den frühen Morgenstunden. Ob im Heimatort, in einer Stadt oder im Ausland: die lateinische Messfeier war überall die gleiche. Von Lehrpersonen und kirchlichen Würdenträgern wurden wir streng und ganzheitlich auf die Karwoche und auf das Osterfest vorbereitet. War es wirklich besser? Sagen wir so: Es war geregelt, es war stimmig, es war fordernd, aber es war glaubhaft. Das kirchliche Leben gehörte zum persönlichen Leben, von der Taufe, über die Erste Heilige Kommunion bis zur Hochzeit. Ein Leben durchsetzt mit zahlreichen Heiligenfesten und kirchlichen Feiertagen. Und wenn am Samstag punkt 17 Uhr vom Kirchturm her der Sonntag eingeläutet wurde, dann war Ruhe angesagt, Besinnung und Kirchgang.
Leben wie früher geht nicht mehr. Wer hofft, es werde wieder alles so, wie es früher mal war, der gibt sich einer trügerischen Hoffnung hin, schreibt Martin Werlen in seinem Buch. Er, der ja selber fast aus der christlichen Laufbahn gefallen ist. Er, der ob all der dramatischen kirchlichen Ereignisse selber zum Zweifler geworden ist. Wer das Buch von Martin Werlen liest, dem fährt ein heilsamer Schrecken in die Glieder. Da schreibt einer, der den Betriebsablauf der Kirche aus dem Effeff kennt: Aufgewachsen im erzkatholischen Oberwalliser Dörfchen Obergesteln, hat er sich zu einem hohen kirchlichen Würdenträger entwickelt. Pater Martin Werlen ist Mitglied des Benediktinerordens, er ist Novizenmeister, Mönch des Klosters Einsiedeln und bis 2013 gar dessen hoch angesehener Abt. Dass er auch Gymnasiallehrer ist, das wissen wenige. Als Bestseller-Autor dagegen hat er eine grosse Fangemeinde. Mit seinen Büchern wie zum Beispiel „Wo kämen wir hin“ oder „Im Zug trifft man die Welt“ hat er sich in die Herzen vieler Menschen geschrieben. So radikal wie sein neustes Buch, hat er sich jedoch bisher nicht gegeben.
Eine Trotzdem-Leidenschaft für die Kirche lässt sich jedoch zwischen den Zeilen immerhin herausspüren. Trotzdem, dass die Kirchen am Limit sind, trotzdem dass die Kirche vieles verpasst hat, trotz dem schlechten Image, dass sich die Kirche eingehandelt hat, trotz all dem gibt es nur eins: Wir alle müssen den Glauben neu entdecken. In seinem Buch kommt der Autor immer wieder auf die Geschichte des Propheten Jona zu sprechen. Diese Geschichte durchzieht seine Ausführungen wie ein roter Faden. Worum geht es? Jona war ein widerwilliger Prophet. Er wollte sich vor Gott verstecken. Er wollte vor seinem Auftrag davonlaufen. Jona musste dann aber feststellen, dass nicht einmal ein Selbstmord-Versuch für Gott ein Hindernis war, Gottes Plan mit ihm zu verwirklichen.
Wenn Martin Werlens Buch eine Botschaft hat, dann ist es diese: Es gibt ein höheres Wesen (Gott), das hin und wieder durch uns Menschen wirkt, und dies trotz unserer Fehler und trotz aller unserer Unzulänglichkeiten. Wir sind alle radikal gefordert. Es hilft nur, bei sich selber anzufangen, nach innen zu gehen, sich tief hinein ins eigene Ich zu versenken. Jede und jeder muss den Glauben für sich neu entdecken – und dies trotz den dramatischen Verzögerungen im kirchlichen Betriebsablauf.
Ist es für die Kirche tatsächlich schon zu spät? Das Buch von Martin Werlen hat auch noch einen Untertitel: Eine Provokation für die Kirche. Hoffnung für alle.
Text und Foto (Symbolbild): Kurt Schnidrig