Im Buchhandel läuft einiges falsch. Und dies, obschon die Schweizerinnen und Schweizer letztes Jahr sage und schreibe 15 Millionen deutschsprachige Bücher gekauft haben. Pro Kopf der gesamten Schweizer Bevölkerung sind das drei Bücher pro Jahr. Man könnte sich über dieses gute Ergebnis ja auch freuen. Wollte man die Bücherverkäufe noch steigern, dann müsste man die Autorinnen und Autoren in die Pflicht nehmen. Viele von ihnen schreiben immer noch Schmöker und dicke Bücher-Schunken von 300 Seiten und mehr. Ein Anachronismus!
Der Mehrheit der Menschen mangelt es an der Zeit. Das Lesen eines Buches erfordert Konzentration. Es ist unmöglich, beim Lesen parallel laufende Chats zu verfolgen. Viele von uns sind untrennbar digital mit der Aussenwelt verbunden. In Ruhe zu lesen, während das Smartphone in Griffnähe ist, das ist vielen schlicht nicht möglich. Das Surfen auf Facebook, Whatsup, Twitter und Instagram ist der grösste Feind des Bücherlesens. Kommt dazu, dass auch raffinierte Netflix-Serien tolle Geschichten erzählen. Das Streamen von Serien zählt nebst dem Gamen zu den Hauptbeschäftigungen ausserhalb der Arbeitszeit. Trotzdem lesen viele auch noch Bücher. Aber kaum noch Bücher, die mehr als 200 Seiten haben.
Bestseller haben oft weniger als 200 Seiten. Schmale und kluge Büchlein avancieren zu modernen Bestsellern. Beweise? Der Schweizer Literatur-Star Arno Camenisch (Bild) schreibt nur noch Büchlein mit maximal hundert Seiten. Das kleine Bestseller-Büchlein „Der letzte Schnee“ (Engeler Verlag) hat 99 Seiten. Der Roman-Bestseller „Hagard“ von Lukas Bärfuss (Wallstein Verlag) bringt es auf 150 Seiten. Die Romane von Pedro Lenz „Liebesgeschichte“ oder „Di schöni Fanny“ schaffen es auf begeisternde rund 150 Seiten. Es ist nachvollziehbar, dass auch Institutionen, die Literatur unters Volk bringen wollen, Bücher mit mehr als 200 Seiten als unzumutbar zurückweisen. Zu Recht. Die grandiose „Bücherbar“ der Mediathek Wallis in Brig, an der drei Bücher von drei Literaten präsentiert und diskutiert werden, wünscht sich Romane von maximal 200 Seiten. Grössere Seitenzahlen wären nicht nur für die Akteure, sondern auch für das Publikum kaum zu bewältigen. Kürzlich lud Kollega Engelbert Reul in den „Literarischen Salon“ ein. Er las aus dem vorzüglichen Werk „Der Verfolger“ von Julio Cortazar. Die meisterhafte Erzählung schafft es, mit 99 Seiten auszukommen.
Schmale, kluge Büchlein schreiben Literaturgeschichte. Der Trend hin zu kleinen und raffinierten Büchlein ist keineswegs eine neue Erscheinung. Die Klassiker der deutschen Literaturgeschichte sind schmale, kluge Büchlein. Beweise? Jeder kennt Johann Wolfgang von Goethes „Iphigenie auf Tauris“. Sie ist Schulbuchlektüre genauso wie wichtiger Teil der Allgemeinbildung eines zivilisierten Menschen. Die „Iphigenie“ (Klett Verlag) hat … 64 Seiten! Ein weiteres Beispiel aus der wunderbaren Epoche der Romantik ist Eichendorffs „Aus dem Leben eines Taugenichts“ (Insel Verlag). Seitenzahl: 140! Die Erzählungen des Kult-Autors Hermann Hesse sind im Ullstein-Taschenbuchverlag erschienen, immer in extra grosser Schrift, damit die kaum hundert Seiten zwischen Buchdeckeln etwas hermachen. Hesses Novelle „Klingsors letzter Sommer“ ist ohne Wenn und Aber grosse Weltliteratur. Die Novelle hat 97 Seiten in Grossschrift. Und Wolfgang Borcherts „Draussen vor der Tür“ (Rowohlt Verlag), vielleicht die berührendste Erzählung der deutschen Literaturgeschichte, hat 62 Seiten. Mit dieser Erzählung auf 62 Seiten hat Borchert einen verzweifelten Protestschrei gegen die zerstörerische Macht des Krieges abgesetzt. Er hat damit mehr Menschen berührt und bewegt, als dies tausende Seiten politischer und philosophischer Literatur haben erreichen können.
Bleibt die entscheidende Frage, weshalb trotzdem immer noch dicke Romane von mehreren hundert Seiten verlegt werden. Seien wir ehrlich: Häufig handelt es sich um reines Prestigedenken seitens der Autorenschaft. Und: Grosses Unvermögen, auf den Punkt zu bringen und mit wenigen Seiten die Leserschaft zu berühren und zu bewegen. In den vergangenen Jahren habe ich Hunderte von dicken Romanen rezensiert. Viele musste ich querlesen. Bei vielen hätte ich liebend gerne die „Füllsel“ herausgerissen. „Füllsel“ sind seitenlange Wiederholungen, Beschreibungen und Nichtigkeiten, die mit der eigentlichen Geschichte des Buches rein gar nichts zu schaffen haben. Was anzufügen bleibt, ist dies: Es gibt tatsächlich einige wenige Romane, die auch die vielen hundert Seiten wert sind, die sie füllen.
Zurück zu den Klagen des Buchhandels. Im Jahr 2017 haben die Schweizerinnen und Schweizer 15 Millionen deutschsprachige Bücher gekauft. Im Jahr 2013 waren es noch 16,5 Millionen Bücher. Einen wesentlichen Grund für den Umsatzrückgang sieht man im schwachen Euro. Er lockt Einkaufstouristen über die Grenze oder animiert sie, Einkäufe bei Online-Händlern im Ausland zu tätigen. Ein weiterer Grund soll die immense Buchpublikation sein. Im deutschsprachigen Raum erscheinen rund 80’000 neue Titel im Jahr. Sicher sind dies Begleiterscheinungen, welche für den kleinen Umsatzrückgang verantwortlich gemacht werden können.
Schmale, kluge Bücher sind gefragt. Wir produzieren nicht zu viele Bücher, sondern zu dicke Bücher. Moderne Leserinnen und Leser sind Multitasker. Dicke Romane mit Hunderten von Seiten, die 40 Franken und mehr kosten, finden nur noch ein sehr fachspezifisches Publikum. Im Geschäftsleben hat sich heute die 3-Minuten-Rede etabliert. Wer länger spricht, hat schon verloren. Es ist eine Kunst, sich kurz zu fassen, auf den Punkt zu bringen. Wer es schafft, auch auf wenigen Seiten seine Leserinnen und Leser zu berühren und zu bewegen, hat gute Aussichten auf einen Platz in der Galerie der Bestsellerautoren.
Text und Foto: Kurt Schnidrig