Plötzlich war ich als Mann allein unter Frauen. Passiert ist mir das in der Galerie St. Laurent in Leukerbad (Bild). Frauen rund um die französische Star-Autorin Emmanuelle Bayamack-Tam luden zu „Lecture et discussion français / Deutsch.“ Schreiben Frauen anders als Männer? Nach nur kurzer Zeit als Mann allein unter Frauen fiel meine Analyse einigermassen schlüssig aus: Frauen schreiben provokativer, emotionaler und pessimistischer. Ist dies ein vorschnelles Urteil? Natürlich. Es ist eine Momentaufnahme. Hört man Emmanuelle Bayamack-Tam zu, dann lassen ihre Geschichten allerdings keinen anderen Schluss zu. Sie beschreibt eine Welt, die nur noch als Missverständnis funktioniert.
Emmanuelle Bayack-Tam schreibt bitterböse. Sie sucht sich Themen aus, die wehtun. Sie schreibt über das Alter, das in unserer Gesellschaft einer Katastrophe gleichkommt. Sie schreibt über die Familie, die zu einem Hassobjekt verkommt. Sie schreibt über Rassismus, der das Leben zur Hölle macht. Bayamack-Tam ist Lehrerin in einer Banlieu südlich von Paris. Sie unterrichtet Literatur und Sprache. Sie ist die einzige Weisse in ihrer Klasse. Seit 1994 veröffentlicht sie Bücher. Mittlerweile liegen ein gutes Dutzend Bücher von ihr vor. Ihr neuster Roman heisst „Ich komme“.
„Ich komme“. Ihr aktueller Roman kreist um die Themen Familie, Kindheit, Mutterliebe. Als ich mit der Lektüre ihres Romans beginne, bin ich schockiert. Der Titel wirkt wie eine provokative Ansage. Sie ruft aus „Ich komme!“. Und wie sie kommt! Emmanuelle Bayamack-Tam kennt kein Erbarmen mit ihren Lesern. Die grausamste und schlimmste Szene stellt sie gleich an den Anfang ihres Romans. Der Säugling Charonne wird von ihren Adoptiveltern in der Mülltonne „entsorgt“. Ihre Haut ist der Adoptivmutter nämlich zu dunkel, ihre Haare sind zu kruselig und überhaupt. Charonne ist zu dick. Also ab in den Mülleimer damit. Charonne wird glücklicherweise gerettet. So schildert der Roman die kaputte Kindheit Charonnes. Ihr mangelt es an allem, was ein Kind braucht, um gesund heranwachsen zu können. Charonnes unglückliche Adoptivmutter bekommt im Roman ihre Psychonalayse verpasst. Die Adoptivmutter kann nur sich allein lieben, sonst niemanden. Das Kind Charonne war für sie immer bloss ein lästiger Störfaktor.
„Ich gehe“. Das Kind Charonne rettet sich durch sein Leben gemäss dem Leitmotiv „Ich gehe“. Charonne ist voller Bedauern über die verpassten Chancen. Sie trauert den Glücksmomenten nach, die sie nicht auskosten durfte. Das Leben ist für sie wie eine Kette. Eine Kette aneinandergereihter Versäumnisse. So ist Emmanuelle Bayack-Tams Roman auch ein Frauenroman. Zumindest aufgrund der weiblichen Protagonistinnen. Grossmutter, Mutter und Tochter liefern drei Versionen einer unbequemen Wirklichkeit. Die Autorin unterzieht das Leben und die Erfahrungen dieser Frauen ihrer Analyse. Die Älteste ist Nelly.
Das Alter ist für sie ein asexuelles Monster, das an die Stelle einer blonden Schönheit tritt. Werden Frauen im Alter grantig und asexuell, während Männer eher reif und altersmilde werden? Zumindest habe ich mir das gedacht, kürzlich in der Galerie St. Laurent, als Mann allein unter Frauen, und beim Lesen der folgenden Passage aus dem neusten Roman von Emanuelle Bayack-Tam: „Ich weiss nicht, wann dieser faule Trick vonstatten gegangen ist, dieses Gaukelwerk, das ein asexuelles Monster an die Stelle der blonden Schönheit, der unbedarften und strahlenden Schönheit, die ich einst gewesen bin, gesetzt hat, aber das Ereignis liegt vor und es würde aber auch jeden niederschmettern.“
Die Hoffnung stirbt zuletzt. Widerstand ist gut und recht. Widerstand muss sein. Widerstand gegen die genormte Welt der Schönen und Reichen. Widerstand gegen die Gleichgültigkeit. Wo aber bleibt die Lebensfreude? Wo bleibt die Lebenslust? Ausgerechnet Charonne, das „entsorgte“ Kind im Roman von Emmanuelle Bayack-Tam strahlt zum Schluss etwas Freude und Lust aus. Allem, was ihr angetan wurde, zum Trotz. Die Autorin macht sie am Ende ihrer Geschichte zur Heldin mit der Kraft, eine Welt zu entwerfen, in die das Leben wieder einzieht.
Als Leser ist man der Autorin für diese versöhnlichen Töne dankbar. Vielleicht schreiben Frauen doch nicht so ganz anders als wir Männer?
Text und Fotos: Kurt Schnidrig