„Ich bin China“

Am vergangenen Wochenende traf ich Guo Xiaolu (Bild). Als Regisseurin und Autorin fühlt sie sich als Repräsentantin ihres Landes bei uns im Westen. Sie sagt und schreibt „Ich bin China“ aus voller Überzeugung. Die Frage, die sie zeitlebens beschäftigt, ist diese: Was für eine Rolle hat eine Künstlerin in dieser Welt zu spielen? Was für eine Rolle habe ich in einer von ideologischen Kämpfen zerrissenen Welt zu spielen? Wie kann ich als chinesische Frau Guo diese Welt verändern? Wie kann ich als chinesische Künstlerin auch im Westen reüssieren? Es scheint, als habe Guo eine Antwort gefunden mit „She, a Chinese“. Am Internationalen Filmfestival in Locarno hat sie mit diesem Filmdrama den Goldenen Leoparden gewonnen.

Künstlerin trotz allem. Leicht hat man es Guo in China nicht gemacht. Sie wuchs in einem Fischerdorf im Süden Chinas auf. Ihr Vater arbeitete als Maler, er sass aber während ihrer Kindheit zehn Jahre lang im Gefängnis. Trotzdem schaffte es die zwanzigjährige Guo an die Pekinger Filmakademie. Dort musste sie erfahren, dass in China mit mutigen und provokativen Werken kein Weiterkommen möglich ist. Die harte chinesische Zensur verunmöglichte die Realisation eines eigenen Films. Ihren kritischen Texten gelang es dagegen eher, durch die Maschen der Zensur zu schlüpfen. Zum Beispiel schaffte dies der persönlich gefärbte Text „Who is my mother’s boyfriend?“.

„She a Chinese“, so heisst der Film, mit dem sie völlig überraschend am Filmfestival von Locarno den Goldenen Leoparden gewann. In diesem Filmdrama erzählt Guo vom erfolglosen Integrationsversuch einer jungen Chinesin. Nach dem Gewinn des Filmpreises in Locarno blieb sie im Westen. Ein halbes Jahr lang genoss sie es, als „Writer in Residence“ am Literaturhaus Zürich zu arbeiten. Ihren Wohnsitz verlegte sie ins weltoffene London. Dort fand sie nun Aufnahme in die renommierte „Granta’s list of Best Young British Novelists“. Nach acht literarischen Werken, darunter Romane und Erzählungen, veröffentlicht sie nun von London aus weitere Erzählungen.

Spannende Literatur. Guo schreibt sehr persönlich, das Erwachsenwerden und das Zusammenleben in einer Partnerschaft sind dabei Schwerpunkte. Empfehlen darf ich zum Beispiel Guos „Kleines Wörterbuch für Liebende“, das im Knaus Verlag in deutscher Sprache erschienen ist. Philosophisch hoch interessant ist ihr Werk über das Erwachsenwerden „Once upon a Time in the East. A Story of Growing Up.“ Wer die äusserst facettenreiche und faszinierende chinesische Künstlerin auch persönlich kennenlernen möchte, dem sei „Ich bin China“ empfohlen. Das Buch ist in deutscher Übersetzung im Knaus Verlag erschienen.

Text und Foto: Kurt Schnidrig