Ein Bild aus sommerlichen Tagen. Eine befreundete Künstlerin hat mir ein wunderschönes Bild geschenkt. Ich liebe das Bild. In warmen Farben hat die Künstlerin die Stadt Venedig eingefangen. Venedig ganz ohne die vielen Touristen. Da ist das Meer im Vordergrund mit den Bootsanlegern. Bei genauem Hinsehen ist im Hintergrund eine Gondel zu erkennen, die sich vertäut und leicht schaukelnd an den Palazzo anschmiegt. Welch wundervolles Bild! Es wärmt mir in den kalten Tagen die Seele. Und es nährt meine Sehnsucht nach den sommerlichen Tagen. Für mich ist es ein goldgerahmtes Bild, obschon es in keinen goldenen Rahmen passt.
Das goldgerahmte Bild ohne Rahmen erinnert mich an Hermann Hesse, den ich sehr verehre. Die Erinnerung holte Hermann Hesse in seinem Tessiner Refugium ein. In schlaflosen Nächten tauchten Bilder aus seiner Vergangenheit auf. Es waren Bilder voller Blumenduft. Es waren aber auch Bilder mit einer zärtlichen Sehnsucht nach Streichelhänden und einer milden Neigung zu Trauer und Todesbitterkeit. Am schönsten aber waren die ungerahmten Bilder, die ihn von seiner Kindheit an bis ins hohe Alter hinein begleiteten. Im Tessin, im spätsommerlichen Montagnola, bin ich auf Hermann Hesses Spuren gewandelt. Tief beeindruckt bin ich an seinem Schreibtisch vor dem geöffneten Fenster gestanden.
Auf Hermann Hesses Schreibtisch liegt ein loses Blatt. Darauf lese ich die Zeilen, die von einem „goldgerahmten Bild“ berichten. Sie passen auch zum Bild, das mir meine befreundete Künstlerin geschenkt hat: „Wenn jetzt noch die Kindheit zuweilen an mein Herz rührt, so ist es als ein goldgerahmtes, tieftöniges Bild, an welchem vornehmlich eine Fülle laubiger Kastanien und Erlen, ein unbeschreiblich köstliches Vormittagssonnenlicht und ein Hintergrund herrlicher Berge mir deutlich wird. Alle Stunden meines Lebens, in welchen ein kurzes, weltvergessenes Ruhen mir vergönnt war, alle einsamen Wanderungen, die ich über schöne Gebirge gemacht habe, alle Augenblicke, in welchen ein unvermutetes kleines Glück oder eine begierdelose Liebe mir das Gestern und Morgen entrückte, weiss ich nicht köstlicher zu benennen, als wenn ich sie mit diesem grünen Bilde meines frühesten Lebens vergleiche. So ist es mir auch mit allem, was ich als Erholung und höchstem Genuss mein Leben lang liebte und wünschte, alles Schreiten durch fremde Dörfer, alles Sternezählen, alles Liegen im grünen Schatten, alles Reden mit Bäumen, Wolken und Kindern.“ (Hermann Hesse: Meine Kindheit. Geschrieben 1896).
Die sommerlichen Reisetage sind vorbei. Sie bleiben in Erinnerung, vielleicht vor allem wegen ihrer zeitlichen Begrenztheit. Was bleibt sind die Bilder. Unsere Erinnerung speichert sie ab für alle Zeiten. Es sind aber nur die goldgerahmten Bilder, die unsere Erinnerung speichert. All das Traumatische und Triste wird überdeckt und überlagert vom Vergessen. Was wirklich bleibt, das sind die goldgerahmten Bilder. Es sind Bilder ohne Rahmen. Es sind Bilder, die uns begleiten, berühren und wärmen.
Vor Hermann Hesses Staffelei ist es ein Leichtes zu philosophieren und den eigenen Gedanken nachzuhängen. Wenn jetzt noch der vergangene Sommer an mein Herz rührt, so ist es als ein goldgerahmtes, tieftöniges Bild. Halt es fest, das Bild aus sommerlichen Tagen! Lass es wohnen in deiner Erinnerung. Oder häng das Bild an die Wand, auf dass es dich begleite, berühre und wärme.
Text und Fotos: Kurt Schnidrig