Bilder sagen oft mehr als Worte. Der Film zum Buch kann Türöffner sein zum Lesen. Eine Literaturverfilmung kann aber auch bieten, was ein Buch dem Leser nicht bieten kann. Der Leser ist beim Lesen eines Buches sein eigener Regisseur. Die eigene Regisseurin oder der eigene Regisseur sein, das ist für eine routinierte Leserschaft durchaus ein erstrebenswertes Ziel. Der Film zum Buch kann jedoch auch ganz neue Qualitäten offenbaren, er kann ungeahnte Perspektiven für die geschriebene Geschichte eröffnen. Solche Überlegungen lassen sich trefflich anstellen an Filmfestivals, zum Beispiel am 14. Zürich Film Festival vom 27. September bis zum 7. Oktober.
Im Kinosaal wird der Leser zum Schauenden. Hier sitzt man inmitten anderer Literatur- und Filmfans. Nach einer Vorstellung liegt ein lockeres Treffen mit der Filmcrew drin. Und manchmal kann es schon auch sein, dass man die Filmschaffenden und die Filmstars an einem Bratwurststand irgendwo in der Stadt trifft. Mehr als 160 Filme aus 48 Ländern flimmern in diesen Tagen in Zürich über die Leinwände. Das sind auch 160 Geschichten, die nur darauf warten, genossen, weiter erzählt, beweint oder belacht zu werden. Eine Handvoll Filme mit literarischen Stoffen möchte ich mir liebend gerne zu Gemüte führen.
„Wolkenbruch“ von Michael Steiner ist eine Schweizer Komödie, die auf einem Roman von Thomas Meyer beruht. Darf man über jüdische Angewohnheiten lächeln? Vielleicht. Der jüdische Witz ist ja eigentlich sprichwörtlich. Auf jeden Fall darf man lachen über den jungen jüdisch-orthodoxen Mann mit dem ulkigen Namen Motti Wolkenbruch. Der hat immer schön brav getan, was seine ebenso jüdisch-orhodoxe Mama ihm vorgeschrieben hat. Als diese dann aber versucht, ihren Sohn an eine junge Frau, an eine jüdische „Schickse“, zu verkuppeln, da streikt dieser. Motti Wolkenbruch hat nämlich an der Zürcher Uni ausgerechnet die schöne Nicht-Jüdin Laura kennengelernt. Laura ist abenteuerlustig und frech, und sie ist so gar nicht „orthodox“. Logisch, das Motti Wolkenbruch in dieser Situation auf die eigenen Beine stehen muss, was aber auch mit viel Herzschmerz verbunden ist. Den Literaten unter uns sei diese höchst vergnügliche Verfilmung des Romans von Thomas Meyer empfohlen. Und ja, nach dem „Sennentuntschi“ ist dem Regisseur Michael Steiner auch wieder ein viel beachteter Streich gelungen.
Wer kennt schon Sidonie-Gabrielle Colette? Regisseur Wash Westmoreland präsentiert am Filmfestival Zürich das filmische Porträt einer der erfolgreichsten französischen Autorinnen aller Zeiten. Sidonie-Gabrielle Colette ist zu Beginn eine junge intelligente Frau aus einem verträumten französischen Dörfchen. Dann aber heiratet sie den 14 Jahre älteren Lebemann Willy. Dieser hat sich – dank vielen Ghostwritern – einen Namen als Autor geschaffen. Um seinen ausschweifenden Lebensstil zu finanzieren, ermutigt er Colette, sie solle doch Geschichten aus ihrer Jugend aufschreiben. Diese verfasst gleich einen ganzen Roman mit dem Titel „Colette erwacht“. Ganz Paris spricht schon bald über Colette, die mit ihrem Roman vielen Frauen ihrer Generation eine Stimme verleiht. Das ist ein verfilmter literarischer Stoff, der unter die Haut geht. Dies auch dank grossartiger Schauspielerinnen wie Keira Knightley und Fiona Shaw.
Die Geschichten von Astrid Lindgren haben wohl fast alle jungen Frauen – früher zumindest – gelesen. Ob „Pippi Langstrumpf“, „Kalle Blomquist“ oder „Ronja Räubertochter“ – Astrid Lindgrens Geschichten haben die Kindheit von Millionen von Menschen weltweit mitgeprägt. Der Film „Astrid“ von Regisseurin Pernille Fischer Christensen gestattet nun aber einen tieftraurigen Einblick in Astrid Lindgrens Leben. Aufgewachsen in einem kleingeistigen schwedischen Kaff, heiratet die Lindgren im Alter von 18 Jahren den verheirateten Zeitungsverleger Reinhold Blomberg. Astrid Lindgren war zuvor von ihm unehelich schwanger geworden, was im Schweden der 1920er Jahre ein unglaublicher Skandal war. Doch die junge Astrid Lindgren findet den Mut, den Anfeindungen ihres Umfelds entgegenzutreten und ein freies und selbstbestimmtes Leben als moderne, berufstätige Frau und Mutter zu führen. Ob der Skandal die Lindgren auch zur Bestseller-Autorin hat werden lassen, diese Frage lässt der Film allerdings offen.
Schweizer Geschichten haben am Zürich Film Festival zwar Seltenheitswert. Dafür ist aber „Midnight Runner“ von Regisseur Hannes Baumgartner ein echter Abräumer. Wie wird man zu einem Mörder? Hannes Baumgartner liess sich von einem Schweizer Kriminalfall inspirieren. Jonas ist ein ruhiger, verschlossener Berner Bürger. Er liebt den Sport und insbesondere das Laufen. Als einer der besten Läufer der Schweiz ist er so sehr auf seinen Sport konzentriert, dass er fast nur Kontakt hält mit seiner Freundin Simone. Alles wäre also gut schweizerisch und bürgerlich, wenn da nicht diese Träume wären. In seinen Träumen begegnet Jonas immer wieder seinem verstorbenen Bruder. Jonas fühlt sich verfolgt von einem dunklen Schatten. Um dem inneren Leidensdruck zu entfliehen, entwickelt Jonas ein Doppelleben, das ihn nachts auf die Berner Strassen treibt. Irgendwann wird ein stiller, unbescholtener Schweizer zu einem Mörder.
Verfilmte Geschichten im Kino leben von der Radikalität des Erzählten. Sie führen ihre Figuren in Grenzsituationen. Sie stellen die Protagonisten vor spannende Entscheidungen. Verfilmte Geschichten verströmen viel Atmosphäre. Und sie erzählen von allem, was unser Leben ausmacht. Sie erzählen von Liebe und Hass, von Macht und Ohnmacht, von Schicksalen, Tragödien und Komödien. Und sie verströmen auch viel Glamour, in dem sich Stars und Starlets sonnen.
Text und Foto (Symbolbild): Kurt Schnidrig