Wer schreibt denn noch Gedichte? Man war bereits versucht zu glauben, dass die Dichtkunst ausgestorben sei. Früher, da hatten wir in der Schule noch Gedichte auswendig gelernt. Goethes „Zauberlehrling“ etwa mit viel Spass. Und Schillers „Glocke“ als Strafe, wenn wir was ausgefressen hatten. Aus Schillers Balladen-Grosswerk „Das Lied von der Glocke“ kann ich heute noch zwanglos zitieren. Etwa wortgewaltige Verse wie: „Drum prüfe, wer sich ewig bindet, ob sich das Herz zum Herzen findet!“ Sowas kennt heute kaum noch jemand. Von unseren Schülerinnen und Schülern ganz zu schweigen. Und Dichter wie Schiller hat man bereits auf den Sockel verbannt und als Denkmal verewigt. (Bild). Doch nun bricht eine neue Blütezeit der deutschsprachigen Lyrik an. Die Poesie kommt zurück! Vorwiegend in Berlin hat sich seit der Jahrtausendwende eine grosse neue Generation von Dichterinnen und Dichtern etabliert.
Poetisch denken. Unter diesem Titel hat der Literaturwissenschaftler und Lyrikkritiker Christian Metz ein Plädoyer für den neuen Aufschwung der Lyrik verfasst. Dabei rückt er die „Berliner Avantgarde“ in den Vordergrund. Dazu gehören Dichterinnen und Dichter, die seit der Jahrtausendwende das Dichten und die Gedichte wieder gesellschaftsfähig machen. Jan Wagner ist einer von ihnen. Er wird neu bei Hanser verlegt, und ihm wurde sowohl der Preis der Leipziger Buchmesse wie auch der Georg-Büchner-Preis verliehen. Auch Ann Cotten gehört dieser Berliner Avantgarde an. Sie wird von Suhrkamp verlegt. Die Feuilletons haben sie euphorisch in den Rang eines Lyrik-Wunderkinds erhoben.
Rückgriff auf die toten Dichter. Jan Wagner und Ann Cotten – wie auch die anderen Dichter der Berliner Avantgarde – greifen auf traditionelle Formen wie Ode, Sonett oder Sestine zurück. Damit lassen sie die tot geglaubten Dichter der Klassik und Romantik wieder auferstehen. Allerdings restaurieren die neuzeitlichen Dichterinnen und Dichter die alten Formen, sie kleiden sie in ein neues Gewand. Sie nutzen die klassischen Formen wie Spielvorgaben für Neues. Zitate und Phrasen lassen sie wörtlich einfliessen in ihre Bricolagen. So wirken denn die klassischen Dichter als Impulsgeber für die moderne Berliner Avantgarde. Sie ist verantwortlich für die gegenwärtige Blütezeit der deutschsprachigen Lyrik.
Die Libertinage ist zurück. Ann Cotten hat die Libertinage wieder ausgegraben. Auf der Libertinage fusst ihr poetisches Programm. Den Gebrauch der Libertinage erlaubten sich bis dato nur noch wenige. Eine Libertinage ist ein spielerisch-zügelloses Instrument in der Lyrik. Beispielsweise ist jede Metapher erlaubt, auch wenn sie ganz offensichtlich nicht sitzt. Ein Beispiel? Einmal fährt ihr Blick „wie ein Kamm in den Verkehr“. Oder dann habe ich bei Ann Cotten so tolle Sätze wie diesen hier gelesen: „Das Pferd meiner Liebe wurde von meiner Vernunft dressiert“.
Traditionelles in neuem Gewand. Jan Wagner von der „Berliner Avantgarde“ demonstriert, wie sich klassisches Reimgeklingel in einen modernen Text verwandeln lässt. Etwa im Gedicht „die kapitäne“: gingen in unserer strasse an land / und schlüpften unter bei witwen, / ankerten in der witwenbucht, / hoch und stolz, wir wahrten den abstand, / kreisten skeptisch wie in winzigen / einbäumen um sie herum. / stille männer mit braungebeizten / gesichtern noch im herbst, wenn das rauschen, / das rascheln der ertrunkenen durchs laub / der hecken ging in kälteren nächten – / an manchen feiertagen fand man / sie schwankend in einem wind mit der stärke / von zweikommaacht promille.
Kann die Berliner Avantgarde die Blütezeit der deutschsprachigen Lyrik am Leben erhalten? Werden wir die Auferstehung der toten Dichter auch bald bei uns feiern dürfen? Die Poesie ist zurück. Geben wir ihr eine Chance.
Text und Foto: Kurt Schnidrig