Vieles kann man einfach nicht wegwerfen. Alte Kameras, kitschige Engelsfiguren, barocke Bierhumpen, längst zerlesene Bücher, kaum mehr abspielbare DVD-Videos… Warum nur horten wir all diese Dinge? Sie verstauben auf Bücherregalen, in Glasschränken, auf Fenstersimsen, auf Tischchen und in Schubladen. Alle, die schon mal eine alte Wohnung räumen oder Platz für Neues schaffen mussten, die wissen, wie emotional eine solche Räumung sein kann. Bei all diesen unnützen Dingen kommen Erinnerungen hoch, sentimentale, romantische, freudige, traurige. Die Dinge haben ein Eigenleben, das sie freisetzen, kaum dass man sie in die Hand nimmt. Mit der alten Kamera knipste früher der Vater die ersten schwarz-weiss-verwackelten Familienbilder. Der Bierhumpen ist ein Erbstück des Urgrossvaters, der starb, bevor er seine Urenkel in die Arme schliessen konnte. Und die Engelsfiguren erinnern an eine Kindheit, in der man sich von guten Mächten umgeben, behütet und bewacht fühlte. Und jetzt stehen und liegen sie da, die Dinge, die wir behalten, weil sie uns eine Geschichte erzählen.
Dinge, die Geschichten erzählen. Im Laufe eines Lebens sammeln sich viele Dinge an. Es sind oft nicht nur heitere und glückliche Geschichten, die uns diese Dinge erzählen. Für den oberflächlichen Betrachter ist der Gegenstand auf der Kommode oder auf dem Bücherregal belanglos, kitschig, vielleicht sogar abstossend. Seinen Besitzer oder seine Besitzerin konfrontiert er jedoch mit Erlebnissen, Enttäuschungen, Liebesbeweisen oder Schuldgefühlen. Indem man die Erinnerungsstücke dem Gerümpel entreisst, sie auf- oder ausstellt, verleiht man ihnen eine Stimme. Man lässt die Dinge ihre Geschichte erzählen. Oftmals erzählen sie aus dem kollektiven Gedächtnis einer ganzen Familie. Nicht immer erzählen sie lustige Geschichten. Sie erzählen auch von verkorksten Beziehungen. Sie erzählen von Verlusterfahrungen und von Todesfällen. Sie erzählen vom Scheitern und von Enttäuschungen. Messies sind Menschen, die sich mit Bergen von Gerümpel umgeben und sich von der Aussenwelt abschotten. Sie leben mit Dingen, die ihnen jene Geschichten erzählen, die ihnen eigentlich ihre Mitmenschen erzählen sollten. Aber manchmal gestaltet sich das Zusammenleben mit Dingen leichter als mit Menschen. Das ist zwar tragisch und traurig, aber es ermöglicht weiterzuleben.
Was bleibt. Über die Dinge, die wir zurücklassen, hat Susannah Walker ein berührendes Buch geschrieben. Sie ist Designerin und hat als Kuratorin am berühmten Victoria and Albert Museum in Kensington, West London, gearbeitet. Das Museum beherbergt die grösste Sammlung von Kunstgewerbe und Design der Welt. Nun ist ihre Mutter gestorben. Wie in einem Auktionskatalog hat sie die Gegenstände aufgeführt und beschrieben, die sie beim Räumen des mütterlichen Hauses gefunden hat. Aus irgendwelchen Gründen war es der alten Dame nicht möglich gewesen, die Dinge wegzuwerfen. Nun spürt die Autorin in ihrem Buch der Bedeutung nach, die all diesen Dingen innewohnt. Immer ist es der persönliche Zugang, der dem Leser die Geschichte eines Gegenstands erschliesst.
Eine psychologische Tiefenbohrung. Das könnte jedem und jeder von uns passieren. Was sich als harmlose Räumung einer Wohnung, eines Haushalts oder auch nur eines Zimmers ankündigt, artet zu einer psychologischen Tiefenbohrung aus. Die Gegenstände wehren sich gegen das Vergessen. Plötzlich erzählen die Dinge aus unserem eigenen Leben. Und mit einer unfreiwilligen Selbstanalyse stellen wir unser eigenes Leben zur Debatte.
Text und Foto: Kurt Schnidrig