Der literarische Altersbonus

Im reifen Alter erst zum erfolgreichen Romancier geworden: Martin Suter.
(Archivbild: Kurt Schnidrig)

Viele von uns können dem Älterwerden nicht viel Gutes abgewinnen. Die Literaten und Schriftsteller sind da eine Ausnahme. Viele der erfolgreichsten Romanciers und Bestseller-Autoren haben das sechzigste Altersjahr weit überschritten. Martin Suter, Lukas Hartmann und Hansjörg Schneider stehen dabei exemplarisch für die Elite der Schweizer Literaten. Warum ist das so? Warum muss in die Jahre kommen, wer von der Muse geküsst werden will? Es sei vorweggenommen: Ohne ein inspirierendes Umfeld und ohne ein persönliches Motivations-Knowhow küsst die Muse nicht.

Die Weisheit des Alters. Ist es vermessen, zu behaupten, dass es für einen guten Roman auch etwas „Weisheit des Alters“ braucht? In unzähligen Seminarien an Universitäten befassten sich die Germanisten dieser Welt schon mit der Altersdichtung, angefangen bei Walther von der Vogelweide und endend bei Schriftstellern unserer Tage. Dem Dichterfürsten Goethe kommt innerhalb dieser literarischen Altersforschung eine exemplarische Bedeutung zu. In seiner Altersdichtung spiele er eine „riesige weisheitsvolle Überlegenheit“ aus. Dabei könne er auch eine gewisse „Altersmilde“ in die dichterische Wagschale werfen, er „akzeptiert lächelnd und verliebt“, hält etwa Martin Walser, der 80-Jährige, in seinem Roman über Goethe fest. Der Roman über Goethe trägt den Titel Ein liebender Mann. Darin zitiert Martin Walser den alten Goethe und rühmt dessen amouröse Euphorie: „Meine Liebe weiss nicht, dass ich über siebzig bin.“ Einzig den Komplimenten, die sein Aussehen betrafen, stand Goethe kritisch gegenüber: „Er hat sich gut gehalten, sieht gut aus“ – solche Aussagen waren für den alten Goethe „krass beleidigend“, denn er wollte nicht auf sein Aussehen reduziert werden.

Das „Fräuleinwunder“ verfängt nicht mehr. In der Vergangenheit hat der Buchmarkt schon alles ausprobiert, was Erfolg verspricht. Verkauft sich ein Buch besser, wenn es von „jungen, hübschen, blonden, frechen, flirty Ladies“ geschrieben oder zumindest präsentiert wird? Im Jahr 1999 tauchte im „Spiegel“ der Begriff „Fräuleinwunder“ auf, um eine Reihe deutscher Autorinnen zu bezeichnen, die das Erzählen wieder populär machten: Judith Hermann, Karen Duve, Mariana Leky, Alexa Henning und Juli Zeh sollten dazu gehören, und – aus schweizerischer Sicht – sollte auch noch Zoe Jenny dieses „Literarische Fräuleinwunder“ komplettieren. Bei allen diesen Autorinnen spielte das Bild einer „sexy, kessen Frau“ mit. Dazu muss ergänzt werden, dass die Bezeichnung „Fräuleinwunder“ ursprünglich aus den amerikanischen Medien nach Deutschland herübergeschwappt war. In den 50er-Jahren bedachten die US-Medien eine neue Generation junger, attraktiver, kesser und sexy Frauen aus Nachkriegsdeutschland mit dem Begriff „Fräuleinwunder“. Der Begriff stammt aus dem Kontext der Miss-Wahlen und bedeutete vor allem nur eines: dass diese Frauen begehrenswerte sexy Frauen sind. Was aber sollte das nun zu tun haben mit der Leistung einer Frau als Schriftstellerin? Fast alle der angesprochenen Schriftstellerinnen haben sich deshalb von diesem Begriff distanziert. Das deutsche Feuilleton rückte zurecht das schriftstellerische Werk in den Mittelpunkt und verbat sich Beschreibungen von Autorinnen, wie sie angezogen sind, wie ihre Figur geformt ist oder wie sie sich bewegen. Sie empfanden solche Aussagen, lediglich das Aussehen betreffend, als „krass beleidigend“, so wie dies schon der alte Goethe getan hatte. Das „Fräuleinwunder“ erwies sich somit auf dem Buchmarkt als Fehlplanung, was dann wieder das literarische Werk ins Zentrum rücken liess. Autorinnen und Autoren im reifen Alter profitierten davon.

Reife Schweizer Romanciers. Sie gehören zu den aktuell erfolgreichsten Schweizer Autoren: Martin Suter (geboren 1948), Lukas Hartmann (geboren 1944) und Hansjörg Schneider (geboren 1938). Was sie gemeinsam haben? Alle sind sie sehr spät Romanciers geworden, der Durchbruch gelang erst mit über sechzig Jahren. Dies mag wohl damit zusammenhängen, dass erst eine breitgefächerte Lebenserfahrung einen literarisch ernstzunehmenden Romancier formt. Lukas Hartmann liess sich zuerst zum Primar- und Sekundarlehrer ausbilden, anschliessend nahm er ein Weiterstudium in Germanistik und Psychologie in Angriff. Er arbeitete als Jugendberater, Redakteur beim Radio und als Medienberater. Reisen durch Indien, Südamerika und Afrika prägten sein Schreiben. Heute ist er freier Schriftsteller in Spiegel bei Bern. Hansjörg Schneider wuchs in Basel auf, er promovierte in Germanistik, Geschichte und Psychologie. Anschliessend arbeitete er als Lehrer, Journalist und Regisseur am Theater Basel. Mit seinen Kommissär-Hunkeler-Krimis gelang im spät der literarische Durchbruch. Martin Suter liess sich zum Werbetexter ausbilden, anschliessend führte er als Creative Director eine Werbeagentur. Als Kolumnen-Schreiber für die „Weltwoche“, für den „Tages-Anzeiger“ und für das „NZZ-Folio“ holte er sich das schriftstellerische Rüstzeug. Der Durchbruch gelang ihm erst spät mit den Romanen „Small World“ und mit „Die dunkle Seite des Mondes“, dies erst kurz vor der Jahrtausendwende.

Inspirierendes Umfeld. Mit der vielzitierten „Weisheit des Alters“ lässt sich der Erfolg der reifen Schriftsteller noch nicht gänzlich erklären. Vielmehr ist es ein inspirierendes Umfeld, das reife Schriftsteller ausgetretene Pfade zu verlassen zwingt. Bei Martin Suter wirkte ein stets wechselndes Umfeld kreativitätsfördernd. Zu diesem Zweck pendelte er zwischen seinen drei Wohnsitzen hin und her, zwischen Zürich, Guatemala und Ibiza. Bei Lukas Hartmann sorgten ausgedehnte Reisen durch Indien, Südamerika und Afrika für Inspiration im Alter. Bei Hansjörg Schneider wirkte die Medienwelt inspirierend, als Lokalreporter bei der Basler Zeitung habe er gelernt zu schreiben, „klar, möglichst knapp, damit es die Leute auch lasen“, verrät er. (Im Vorwort zu „Im Café und auf der Strasse“, Seite 10).

Persönliches Motivations-Knowhow. Den literarischen Altersbonus gibt es nicht vergebens. Die Weisheit des Alters muss sich paaren mit einem inspirierenden Umfeld und mit einem persönlichen Motivations-Knowhow. Reife Schriftsteller sind nicht selten auch Freiluftfanatiker und Sportjunkies. Die Literatin Beatrice von Matt schreibt über Hansjörg Schneider: Mit Schwimmen, winters auch mit Joggen und Langlauf, bereitet sich Schneider vor auf das Schreiben, jeden Morgen: „De bin i zwäg.“ Er sagt’s, zieht Luft in die Lungen, drückt die Ellbogen im Rücken zusammen und schaut unternehmungslustig. Nein, Schreibkrisen kenne er eigentlich kaum. (In: Im Café und auf der Strasse, Seite 213).

Staatlich verordneter Ruhestand? Der literarische Altersbonus zeigt auf, welche Möglichkeiten sich den Menschen im reifen Alter erschliessen. Auch die Wirtschaft beginnt allmählich das grosse und meist brachliegende Potenzial der Senioren zu erkennen, in vielen Betrieben möchte man nicht auf den Erfahrungsschatz der „Alten“ und „Pensionierten“ verzichten. Bei kantonalen Stellen und Ämtern will man jedoch nicht auf reife Menschen zurückgreifen. Ein Beispiel? Im Oberwallis konnten gleich für acht Schulklassen keine Lehrpersonen gefunden werden. Studentinnen müssen unterrichten. Man geht mit einem derart „visionären Konzept“ lieber Risiken ein, denn „auf pensionierte Lehrpersonen wollte man beim Kanton nicht zurückgreifen“ (Walliser Nachrichten auf rro vom 13.08.2019). Warum eigentlich nicht? Ob und wie man „die Pension geniessen“ möchte, das sollte jede und jeder wohl selber entscheiden dürfen. Ähnliches gilt für Lehrpersonen im Ruhestand, die sich punktuell für kulturelle Anlässe an den Schulen einspannen liessen.

Gegen das defizitäre Bild des Alters. Landesweit rüsten sich Senioren zum Widerstand gegen den staatlich verordneten Ruhestand. Gleich zwei Initiativen gegen die staatliche Diskriminierung der älteren Menschen sind hängig. Dabei formiert sich insbesondere der Widerstand gegen Altersgrenzen für gewisse Ämter oder die Ausmusterung im Job. „Das defizitäre Bild des Alters ist nicht mehr zeitgemäss.“ Dieses Zitat stammt nicht von Literaten, es ist dem letzten Bericht des Bundesrats zur Alterspolitik entnommen. Der Bericht ist zwölf Jahre alt.

Text und Foto: Kurt Schnidrig