„Villa Jenseits“ Wahnsinn

Wahnsinn in der „Villa Jenseits“ – was versteckt sich wohl hinter vergitterten Fenstern?
(Foto: Kurt Schnidrig)

Mein Weg nach Hause führt an der „Villa Jenseits“ vorbei. Das zugemauerte und vergitterte Haus befindet sich am Stockalperweg, der von Brig hinauf auf den Brigerberg führt. Manchmal bleibe ich davor stehen und lese diese geheimnisvolle Inschrift, die mit kunstvollen Lettern in die Aussenfassade eingelassen ist: „Villa Jenseits“ Wahnsinn. Niemand weiss, was sich hinter den verbarrikadierten Fenstern und Türen verbirgt. Manchmal, wenn ich in Vollmondnächten zwischen Büschen und Bäumen den verborgenen Pfad hinaufsteige, da kann es schon sein, dass ich auch leise Stimmen zu hören glaube. Ich rede mir dann ein, dass es wohl nur der Wind sei, der durch die Büsche streicht, oder vielleicht ein Vogel der Nacht, der noch spät auf Beute aus ist. Oder sind es Stimmen aus der „Villa Jenseits“?

Die Toten sind uns nah. Die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff lebt in einer unsichtbaren Villa Jenseits. Die Toten sind ihr nah, seid sie als Kind ihren Vater verloren hat. Ihr Vater beging Suizid, als sie elf Jahre alt war. Schon ein Jahr später begann sie, einen Roman zu schreiben. Das Schreiben war ihr ein Hilfsmittel, um über die familiäre Katastrophe hinwegzukommen. Selber ist sie an Multiple Sklerose erkrankt, das ist eine Krankheit, die zum Tode führt. Für sie besteht der Sinn des Lebens nun darin, sich auf einen guten Tod vorzubereiten. Sie kann sich nicht vorstellen, dass mit dem Tod alles aus ist. Sie lebt in Berlin und schaut oft hinauf zum Himmel über Berlin. Von dort oben möchte sie dann als Tote herunterschauen. Und sie fragt sich, wie das denn sein könnte, von dort oben hinunter auf die Stadt zu blicken? Mit dem Blick einer Toten? Was sieht sie als Tote? Was interessiert sie dann noch? Der Protagonist in ihrem neusten Roman ist schon mal aufgestiegen und blickt für sie hinunter auf die Stadt. Mit den Augen eines Toten. Von oben. Und „Von oben“ heisst auch ihr neuster Roman.

Die Erkundung des Jenseits nimmt in der Literatur einen wichtigen Platz ein. Ist nach dem Tode noch etwas möglich? Gibt es den hellen Wahnsinn in der Villa Jenseits?

Der helle Wahnsinn in der Villa Jenseits? Die Autorin Sibylle Lewitscharoff glaubt fest daran, dass es da noch was gibt, nach unserem Tod, wenn wir die „Villa Jenseits“ beziehen. Sie ist überzeugt, dass man im Sterben, in den letzten Minuten oder Sekunden vor dem Tod, so eine Art Abrechnung über das eigene Leben erhält. Was war gut? Was ging daneben? Viele haben sich wohl auch ihr eigenes Leben schöngeredet. Einige vielleicht auch schöngetrunken. So wie der Protagonist in Lewitscharoffs Roman „Von oben“, der hat sich LSD eingeworfen um für sich den grauen Alltag etwas farbiger zu gestalten. Jetzt kreist er als ein Toter hoch über den Dächern von Berlin und eigentlich ist er eine sie, es ist die Autorin Lewitscharoffs selber, die nach dem Suizid ihres Vaters an Multiple Sklerose erkrankt und mit LSD über die Runden zu kommen versucht. Bis sie endlich hoch oben am Himmel sein und herunterschauen darf. Von oben, mit totem Blick. Sibylle Lewitscharoff kann sich nicht damit abfinden, dass mit dem Tod alles vorbei sein soll. Sie hofft fest darauf, dass es nach dem Tod irgendwie weitergeht.

Wir sind umgeben von Toten. Der Tote im Roman von Lewitscharoff ist ein Schwätzer. Selber sieht er sich als „Schwätzer mit Imponiergehabe“ und die „Klatschsucht“ steht in seinem Sündenregister zuoberst. Was sollte er sonst auch tun da oben am Himmel? Da oben ist man nämlich verdammt einsam. Der Protagonist im Roman kann mit niemandem sprechen, weder mit den Lebenden noch mit den Toten. Aber immerhin, allein ist man als Toter nicht. Wir sind umgeben von Toten, hier im Diesseits und nach unserem Tod im Jenseits, davon ist Lewitscharoff überzeugt.

Wie wird es sein in der Villa Jenseits? Sind wir schon im Diesseits von Toten umgeben? Oder ist das bloss ein literarischer Topos?

Die Villa Jenseits ist im Diesseits. Die Schriftstellerin Lewitscharoff glaubt, dass wir nicht länger darauf warten müssen, bis wir ins Reich der Toten eingehen dürfen. Das Totenreich ist nämlich bereits hier unter den Lebenden. Die Villa Jenseits steht im Diesseits. Nach dem Suizid ihres Vaters, nach dem Tod der geliebten Grossmutter und dem Wegzug ihres älteren Bruders stürzte sie sich in LSD-Abenteuer. Auf Spaziergängen mit ihrem Dackel hat sie immer ein Messer dabei. Wenn ich den Dackel mit dem Messer schlachte, dann kommt der tote Vater wieder, erhofft sich Lewitscharoff.

Jenseitsvorstellungen. In ihrem literarischen Werk überschreitet Sibylle Lewitscharoff die Grenzen des Diesseits. Bei ihr entstammen die Jenseitsvorstellungen hauptsächlich dem LSD-Rausch. Die Katastrophe ihrer Kindheit bestand darin, dass die Toten rücksichtslos über sie herfielen. Als Schriftstellerin ist sie traumatisiert von einer tragischen Kindheit. Nun überschreitet sie im Leben und im Schreiben die Grenze zwischen dem Diesseits und Jenseits.

Das Geheimnis der „Villa Jenseits“. Die Frage nach einem Leben nach dem Tod hat die Menschheit seit alters her beschäftigt. Die Frage, ob wir bereits im Diesseits von Toten umgeben sind, hat der Literatur seit jeher die spannendsten Geschichten beschert. Befindet sich das Totenreich mitten unter uns? Was ist wirklich in der „Villa Jenseits“ verborgen? Ich möchte es nicht wissen. Die Phantasie darf nicht sterben. Die Literatur braucht den Topos und den Mythos für ihre Geschichten. „Was ich am meisten fürchte, ist der Tod der Phantasie“, schrieb die Dichterin Sylvia Plath (1932-1963).

Die Phantasie am Leben lassen. Aus diesem Grund möchte ich auch nicht wissen, was für eine Geschichte die „Villa Jenseits“ zu erzählen hat, an der ich jeden Tag vorbei wandere, auf meinem Weg nach Hause. Es wäre schade um alle die vielen Geschichten, die meine eigene Phantasie bereits gesponnen hat, besonders nachts, im Lichte des Mondes.

Text und Fotos: Kurt Schnidrig