Abendstimmung über Birgisch. Marianne Künzle empfängt mich in ihrem zauberhaft angelegten Naturgarten. Die Blüten der gelben Nachtkerzen haben sich bereits zur Nachtruhe eingerollt. Marianne Künzle fordert mich auf, eine der schlafenden Blüten zu berühren. Und tatsächlich! Die Blüte entrollt sich und begrüsst mich offenherzig. Bei Marianne Künzle erscheint alles wie aus einem Guss: Die naturbelassene Wohnumgebung, ihre Naturverbundenheit und ihr Schreiben. Den Volljob als Kampagnenleiterin für ökologische Landwirtschaft bei Greenpeace hat sie eingetauscht gegen einen Teilzeit-Job bei der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, dadurch habe sie jetzt mehr Zeit zum Schreiben, freut sie sich. Die schicksalshafte Verbundenheit des Menschen zur Natur, das ist ihr grosses Thema. Vergangene Woche hat sie aus ihrem Buch über den Kräuterpfarrer Künzle gelesen, bereits ist ihr nächstes Buch in Arbeit, es wird von der Gletscherschmelze handeln und vom Klimawandel. Das ist es, was mich zurzeit so sehr beschäftigt, sagt sie, die Öko-Autorin, zweifellos eine Hoffnungsträgerin für all die Bewegten, die sich eine Umkehr wünschen zu mehr Umweltbewusstsein und zu mehr vernetzter Naturverbundenheit.
Uns Menschen in den Weg gestreut. So lautet der Titel ihres Buches, das im Berner Zytglogge-Verlag erschienen ist. Marianne Künzles biographischer Roman über den Kräuterpfarrer Johann Künzle erzählt von dessen wichtigster Botschaft: Leute, öffnet die Augen für alles, was vor eurer Haustüre wächst! Benutzt die heilenden Kräuter, um euch gesund zu behalten! Der liebe Gott lässt am Wegrand wachsen, was euch helfen kann! Pfarrer Johann Künzle lebte im 19. Jahrhundert, damals, als Glaube und Religiosität noch fest im Volk verankert waren. In den Jahren zwischen 1910 und 1921 schuf sich der Kräuterpfarrer aus dem Sanktgallischen Rheintal einen legendären Ruf, die Menschen pilgerten zu ihm im Vertrauen und in der Hoffnung auf seine Kräutermischungen und Tinkturen. Das ausgehende 19. Jahrhundert traf auf die Moderne mit Rebellion und Aufstand, eine spannende Zeit, ein geschichtlicher Hintergrund, den die Autorin gekonnt mit ihrer Romanstory verquickt.
Ein geschichtsträchtiges Setting. Die Jahre 1902-1922 habe sie ganz bewusst ausgewählt, verrät mir die Autorin, denn es seien dies die wichtigsten Jahre gewesen im Leben des Johann Künzle. Da sei ihr allerdings schon auch etwas der Zufall zu Hilfe gekommen, dass sich die Story um den Kräuterpfarrer in ein derart spannendes und bewegtes zeitliches Setting einfüge lasse. Das Jahr 1911 markiert den Beginn des Aufstiegs der unteren gesellschaftlichen Schichten, die Modernisierung brach sich ihre Bahn mit der Elektrifizierung und mit der Erschliessung der Landschaft mit der Eisenbahn. Dann flammte 1914 der Erste Weltkrieg auf und nach 1918 – als ob es nicht schon genug der Katastrophen gegeben hätte – fegte die spanische Grippe über die Welt und auch über die Schweiz hinweg. Turbulente Zeiten seien das gewesen, erinnert sich die Autorin, aber auch spannende Zeiten zum Recherchieren und zum Schreiben.
Eine dramatische Figurenkonstellation. Eigentlich dreht sich Marianne Künzles Roman nicht nur um den Kräuterpfarrer Künzle. Die Autorin lässt ihn wirken in einem Dreiecksverhältnis zusammen mit einem Vertreter der klassischen Medizin, Benedikt Prodin, und mit dem Dorflehrer aus Wangs im sanktgallischen Rheintal, Lorenz Schumacher, der als Widersacher all jene Leute verkörpert, die den prominenten Dorfpfarrer vor allem wegen seines Erfolges benieden hatten und weil er Menschen geheilt hatte, die in Massen zu ihm geströmt waren um sich Ratschläge für ihre Gesundheit zu holen. In diesem Dreigestirn steht der Protagonist Benedikt Prodin für die Ärzteschaft, für die Künzles erfolgsversprechende Heilmethoden und die damit wieder auflebende Naturbewegung ein Dorn im Auge war. Dieses „Zurück zur Natur“, dieses Zurück zu althergebrachtem Wissen, liess Pfarrer Johann Künzle zu einem Politikum werden. Nicht nur im Rheintal, auch schweizweit musste er Anfeindungen ertragen, die aufkommenden Pharmaindustrie in Basel sah sich sogar bemüssigt, eine „Zentralstelle gegen das Kurpfuschertum“ einzurichten. In Tat und Wahrheit fürchtete die etablierte Ärzteschaft lediglich um ihr Auskommen.
Die vielen Gesichter des Johann Künzle. „Das war der Grund, weshalb mich die Story um Kräuterpfarrer Künzle derart gepackt hat, deshalb beschloss ich, einen Roman über diesen Mann zu schreiben: Er war einerseits die Verkörperung des erzkonservativen Katholizismus, er war auf Traditionen fixiert, er vertrat die alten Werte, damit konnte ich persönlich zwar nichts anfangen, vor allem nicht mit dem katastrophalen Frauenbild, das er hatte“, erzählt die Autorin. Doch ihr Protagonist zeige in der Wirklichkeit wie auch im Roman auch sehr sympathische Seiten. Pfarrer Künzle sei auf Menschen eingegangen, er habe ein offenes Ohr gehabt für ihre Probleme, er habe selbstlos überall geholfen, wo es nötig gewesen war. Nicht zuletzt aber habe der Kräuterpfarrer auch immer wieder seine eigenen Werte über den Haufen geworfen, etwa dann, wenn er über die Konfessionsgrenzen hinweg die Menschen gepflegt habe oder wenn er den Religionsunterricht nicht im Schulzimmer, sondern im Wald abgehalten habe, um den Kindern dort die Heilpflanzen zu erklären.
Die Kirche als Spielverderber. Pfarrer Künzle hatte kranke Menschen „abgependelt“, was der katholischen Kirche sauer aufgestossen war. Mit Hilfe des Pendels versuchte der Kräuterpfarrer herauszufinden, was den Menschen fehlte. Dem Bischof von Sankt Gallen sei das denn doch zu viel geworden, er fürchtete um das Image der katholischen Kirche. Vor hundert Jahren spielt Marianne Künzles Romanstory. Ob sich denn aus der Perspektive einer Frau seither Entscheidendes verändert habe, wollte ich von der Autorin wissen. Eine einzige Frau komme in ihrer Story vor, es sei dies die Frau des Arztes Benedikt Prodin, aber sie sei gefangen in der traditionellen Frauenrolle, obschon sie zuweilen auch Züge aufweise, die sie eigenständig erscheinen lassen, erklärt die Autorin. Doch sei die Rolle der Frau damals „katastrophal“ gewesen. Allerdings habe es auch schon damals vor allem in urbanen Gebieten Bewegungen von Frauen gegeben gegen die patriarchalischen Strukturen – eine unglaublich bewegte Zeit sei das gewesen, resümiert die Autorin.
Verbundenheit mit der Natur. Der Abend kriecht die Hänge des Natischerbergs empor. Der Blick übers Tal hinweg endet hoch über dem Simplon. Die Abendsonne küsst da oben den ersten Schnee. „In meinem neuen Buch wird es um die schicksalshafte Verbundenheit des Menschen mit der Natur gehen“, verrät mir Marianne Künzle, „Gletscherschmelze und Klimawandel werden wichtige Themen darin sein, denn das ist es, was mich zutiefst beschäftigt.“ Dazu habe sie sich bereits ein spannendes Setting ausgedacht: Die Geschichte zweier Frauen, die sich nie richtig kennenlernen, deren Wege sich aber immer wieder kreuzen.
In den Spuren von Margaret Atwood? Nachdenklich und voller Eindrücke verlasse ich Marianne Künzles paradiesischen Lebensraum am Natischerberg. Marianne Künzle hat etwas von der kanadischen Öko-Autorin Margaret Atwood, fährt es mir durch den Kopf, auch sie erinnert nicht nur in der Welt des Science Fiction an Klimawandel und Umweltzerstörung. Auch sie lebt, was sie schreibt. Das macht beide sympathisch und glaubwürdig. Margaret Atwood und Marianne Künzle.
Text und Fotos: Kurt Schnidrig