Eben noch sorgte er an der Frankfurter Buchmesse für ein Ausrufezeichen mit seinem Erzählband „Malinois“. Heute Samstag feiert sein populärstes Theaterstück „Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg Premiere. Erstmals wird das Stück an einem Theater für ein junges Publikum gespielt. Seit dem Gewinn des Georg-Büchner-Preises, des wichtigsten deutschen Literaturpreises überhaupt, ist der Thuner Lukas Bärfuss für ein breites Publikum unseres nördlichen Nachbarlandes zu einer literarischen Grösse aufgestiegen, die nahtlos an den kritischen Geist eines Max Frisch anknüpfen kann.
Das Mysterium des Begehrens. „Was ist Liebe?“ Im Erzählband Malinois geht es immer wieder um die vielen möglichen Facetten der Liebe. Bärfuss erzählt von den vielen Fallstricken und Falltüren, welche die Liebe für uns alle hier und überall bereit hält. Doch es ist nicht die Liebe des kurzen Augenblicks, die ihn beschäftigt. Vielmehr sucht der Autor nach einem beständigen und immerwährenden Glück, er projektiert in seinen Geschichten eine Ewige Liebe, zu der auch eine sinnliche Erfüllung gehört, aber die auch letztendlich den Lebenssinn ausmacht. Irgendwie hören sich Bärfuss‘ Erzählungen schicksalshaft an, die Liebe lässt sich von Menschenhand kaum beeinflussen und schon gar nicht manipulieren. Die Titelgeschichte „Tanz um das Mysterium des Begehrens“ kann exemplarisch stehen für den strukturellen Unterbau all dieser Geschichten. Bärfuss führt uns als Leser mitten hinein ins Hier und Jetzt, lässt uns ins Hinterhältige und Abgründige abtauchen und demonstriert auf vielfältige Weise, weshalb die Liebe bloss ein Spiel ist, dessen Spielregeln einzig und allein das Schicksal bestimmt. Die Geschichten im Erzählband Malinois, aus dem der Autor an der Frankfurter Buchmesse las, führen in direkter Linie zum Theaterstück „Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“.
Premiere in Hamburg. Heute Samstag, 19. Oktober, feiert Lukas Bärfuss in Hamburg Premiere. Erstmalig wird sein populärstes Theaterstück „Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ an einem Theater für junges Publikum gespielt. Das Stück handelt von einem Mädchen namens Dora. Die Eltern nehmen sie als „andersartig“ wahr und haben mit Doras wilden Gefühlsausbrüchen ihre liebe Mühe. Deshalb stellen sie Dora ruhig, indem sie ihr Psychopharmaka verabreichen. Die Eltern glauben, nur auf diese Weise ihrer Tochter ein „normales Leben“ ermöglichen zu können. Und fürs erste bekommen die Eltern recht: Dora kann sogar einer geregelten Arbeit nachgehen, sie hilft in einem Gemüseladen aus. Doch dann wünscht sich die Mutter eines Tages, die wahre Persönlichkeit ihrer Tochter kennenzulernen, und sie setzt die Medikamente ab. Da erwacht Dora aus ihrer künstlich herbeigeführten Betäubung. Mit ihrem plötzlich aufflammenden Lebenshunger melden sich auch die sexuellen Triebe machtvoll und ungebremst. Dora lässt sich auf zweifelhafte Bekanntschaften ein, wird vergewaltigt und geschwängert. Trotzdem empfindet Dora die sexuelle Befreiung als ein Ausbruch aus allzu wohlbehüteter Umgebung. Dora tut sich keinen Zwang mehr an, sie brüskiert die moralinsaure Erwachsenenwelt und entlarvt deren Doppelmoral. Sie lebt ungehemmt ihre Lebenslust aus und lässt sich auch von den Eltern nicht in die Schranken weisen, auch dann nicht, als diese sie zur Abtreibung schicken und zwangssterilisieren lassen.
Die Zurückhaltung des Autors. Wer Lukas Bärfuss als politischen Agitator zu kennen glaubt, der muss nach dem Besuch dieses Theaterstücks umdenken. Der Autor mimt hier den feinfühligen Betrachter, er bezieht nicht Stellung, er enthält sich jeder Wertung, er klagt nicht an. Seine Figur Dora macht er nicht zur Heldin, auch nicht zu einem bemitleidenswerten Opfer. Die Abwesenheit des auktorialen Besserwissers ist es, die dieses Stück zu einem der besten des Schriftstellers Bärfuss werden lässt.
Text und Foto: Kurt Schnidrig