Pascal Mercier: Das Gewicht der Worte

Über 60 Jahre alt und die Endlichkeit des Lebens vor Augen: Ist ein Neuanfang in London möglich? Das fragt sich der Protagonist in Merciers neuem Roman. (Symbolbild: Kurt Schnidrig)

Das geht wohl vielen von uns älteren Menschen so: Zwar ist man noch unternehmungslustig, aber ein Weiterleben und ein Weiterarbeiten in der gleichen Stadt, in der man gearbeitet und in der man mit Frau und Kindern gelebt hat, ist nicht mehr möglich. Auch Simon Leyland, der Protagonist in Pascal Merciers neuem Roman, steht an einem Wendepunkt seines Lebens. Er ist 61 Jahre alt, seine Frau ist gestorben, die Kinder ausgeflogen. Wie nur soll es nun weitergehen? Da stirbt ein reicher Onkel in London und vererbt ihm ein Haus. Ein Glücksfall? Vielleicht. Aber ist ein Neuanfang in einem anderen Land noch möglich? Auch noch, wenn man bereits im Herbst des Lebens steht?

Eine Rückschau auf ein Leben. Viele von uns kennen Pascal Mercier vielleicht noch als Autor von „Nachtzug nach Lissabon“. Buch und Film sind bereits vor 15 Jahren erschienen. Der Roman des Berner Autors verkaufte sich damals mehr als zwei Millionen mal. Und schon damals handelte die Geschichte in „Nachtzug nach Lissabon“ von einem gelebten Leben. Jetzt also der neue Roman von Pascal Mercier, er trägt den Titel „Das Gewicht der Worte“. Auch der neue Roman ist wieder eine beklemmende Rückschau auf ein gelebtes Leben. Der Protagonist heisst dieses Mal Simon Leyland, ist Engländer, und er ist ein „Mann der Sprache“. Alles, was es über ihn zu schreiben gibt, das lässt sich vorerst in einem Satz zusammenfassen: „Alles, was für ihn jemals gezählt hatte, waren Worte“, ist da nachzulesen. Für Leyland sind Worte wichtiger als Gefühle. Ein derart wortlastiges Leben schafft jedoch Probleme.

Wenn Worte wichtiger sind als Gefühle, dann birgt dies viel Konfliktstoff in sich. Handelt es sich um eine „deformation professionnelle“? Simon Leyland war Besitzer eines Verlags, er hatte ein Leben lang seinen Unterhalt mit dem Arrangieren von Worten bestritten. Aus psychologischer Sicht liesse sich wohl von einer Dominanz des Kognitiven gegenüber dem Emotionalen sprechen. Simon Leyland, der Mann des Wortes, lebt sein Literaten-Leben beinahe krankhaft und läuft Gefahr, wortsüchtig unterzugehen. Besonders dann, wenn er sich ehrgeizige Ziele setzt, die ans Übermenschliche grenzen. So trägt er den Wunsch in sich, alle Sprachen zu erlernen, die rund ums Mittelmeer gesprochen werden.

Sich selber neu erfinden. Wer mit 60 Jahren eine Rückschau auf sein Leben hält, der gerät leicht in Versuchung, sein Leben nochmals umzukrempeln, um dem letzten Lebensabschnitt nochmals eine neue Ausrichtung und eine neue Sinngebung zu verleihen. Auch der Protagonist in „Gewicht der Worte“ muss sich selber nochmals neu erfinden. Dafür braucht es nochmals viel Mut. Simon Leyland muss nochmals allen Lebensmut abrufen. Er beschliesst, selber Autor zu werden. Weil er aber als Autor nicht nur mit Worten handeln, sondern seine Leser*innen auch auf der Gefühlsebene erreichen möchte, muss „der Mann der Worte“ versuchen, seine Gefühle in Worte zu fassen. Wie aber lassen sich Gefühle erfahren, wenn man ein Leben lang nur mit Hilfe der Worte mit seinem Umfeld kommuniziert hat?

Begegnungen mit Menschen vermitteln Gefühle. Am Anfang jeglicher menschlicher Kommunikation stehen die Begegnungen mit Menschen. Nur sie vermitteln Gefühle, die sich anschliessend in Worte fassen lassen. Und so erzählt uns Pascal Mercier in seinem Roman von Begegnungen, die seinen Helden gefühlvoll und emotional werden lassen. Simon Leyland trifft einen literarisch gebildeten Kellner. Simon Leyland trifft einen talentierten Apotheker, der ihn mit seiner Cello-Musik umgarnt. Und es sind häufig auch ganz einfache und alltägliche Begegnungen, die das emotionale Potential von Leyland freisetzen. Etwa die Begegnung mit einer Frau namens Mary Ann, mit der er immer wieder mal einen Tee trinken geht. Bei all diesen Begegnungen geht es immer nur um die eine wichtige Feststellung: Damit die eigene Gefühlswelt in Wallung gerät, müssen wir aus den eigenen vier Wänden ausbrechen, denn es braucht dafür menschliche Kontakte und Begegnungen. Die Gefühlswelt, die dabei entsteht, stellt einen riesigen Fundus dar, aus dem wir vor allem auch beim Schreiben schöpfen können.

Ein Entwicklungsroman? Sein Leben lang war Simon Leyland, der Protagonist in Merciers Roman, „wie ein Boot im Nebel“. Seine Gefühlswelt war verdeckt, wohl auch ins Unterbewusstsein verdrängt. Nach jeder Begegnung mit faszinierenden Menschen lichtet sich nun der Nebel in Leylands Gefühlswelt. Im Roman heisst es: „Es war mit den Gefühlen ganz in der Tiefe etwas geschehen.“ So macht uns Pascal Mercier mit seinem Roman „Das Gewicht der Worte“ wieder einmal bewusst, dass eigentlich alles Wichtige in unserem Leben ausschliesslich über Emotionen und Gefühle entsteht.

Hören Sie hier meine Sendung Literaturwelle zum Roman „Das Gewicht der Worte“ von Pascal Mercier.

Text und Foto: Kurt Schnidrig