Hildegard Keller ist Autorin und Literaturwissenschaftlerin. Sie veröffentlichte Theaterstücke, Hörspiele und Filme. Sie lehrt als Professorin für Literatur an der Universität Zürich, wo sie insbesondere auch das Fach „Storytelling“ unterrichtet. Sie war Jurorin beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt. Bekannt wurde sie zudem als Mitglied im Literaturclub des Schweizer Fernsehens. Immer geht es ihr darum, die Frauen und ihre Werke ins Leben zurückzuholen. Zurzeit tut sie dies mit ihrem Buch „Was wir scheinen“. Darin befasst sie sich mit der bedeutendsten Philosophin und Forscherin des letzten Jahrhunderts, mit Hannah Arendt. Arendts Leichtigkeit des Denkens war ihr als Beobachterin und Berichterstatterin im Eichmann-Prozess zum Verhängnis geworden.
In Jerusalem hatte Hannah Arendt den Prozess um den SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann als Publizistin verfolgt. Eichmann hat die (Mit-)Verantwortung zu übernehmen für die Ermordung von Millionen von Juden. Nach dem Erscheinen ihres Buches „Eichmann in Jerusalem“ entstand weltweit eine Kontroverse über Hannah Arendts Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus und seinen Exponenten. Insbesondere Israel und das Judentum sahen in Hannah Arendt eine Verräterin und warfen ihr vor, mehr Verständnis für die Täter als für die Opfer an den Tag gelegt zu haben. Die Anschuldigungen der jüdischen Intelligenzia kulminierten im harschen Vorwurf, dass sie den Massenmord an den Juden verharmlose.
Hildegard Keller zeigt in ihrem Buch „Was wir scheinen“, dass Unabhängigkeit im Denken wichtig ist. Die Literaturwissenschaftlerin Keller hat sich im Tessin auf die Spuren von Hannah Arendt begeben. Hierhin, ins kleine Dörfchen Tegna, hatte sich die weltgewandte Philosophin Arendt zurückgezogen, um Ruhe zu finden vor den quälenden Fragen und Schuldgefühlen, die sie seit der Publikation ihres Buches über den Eichmann-Prozess bedrängten. Hat Hannah Arendt das Böse verharmlost? Hat sie die Nazi-Verbrechen als eine „Banalität des Bösen“ kleingeredet?
In Basel führte uns Hildegard Keller am dortigen Literaturfestival ein in die Welt von Hannah Arendt. Sie erläuterte, wie sehr das Eichmann-Buch einen weltweiten Shitstorm auslöste. Die harschen Vorhaltungen und Anschuldigungen seitens von Israel und des Judentums hätten Hannah Arendt viel gekostet, erläuterte Hildegard Keller.
„Hannah Arendt hätte ein ganz anderes Leben gelebt.“
Hildegard Keller über Hannah Arendts Buch „Eichmann in Jerusalem“ und den Shitstorm, den das Buch weltweit ausgelöst hatte.
Auf ihre Publikations-Freiheit hatte Hannah Arendt zeitlebens gepocht und nichts zurückgenommen, was sie in ihrem Buch über den Eichmann-Prozess zu Papier gebracht hatte. Hildegard Keller hat das Hannah-Arendt-Universum in ihrem Buch „Was wir scheinen“ recherchiert. Was Hannah Arendt letztlich geblieben waren, das waren Beziehungen. Vor allem auch jene mit dem Psychiater und Philosophen Karl Jaspers. Wurde Hannah Arendt zeitlebens als Idol verehrt, holt sie nun die Literaturwissenschaftlerin Hildegard Keller vom Sockel herunter.
Unnahbar und distanziert gab sich Hannah Arendt nach ihrem Rückzug aus der Öffentlichkeit. In „Was wir scheinen“ zeigt Keller auf, wie sehr Hannah Arendt verschiedene Facetten ihrer Persönlichkeit nur im Geheimen ausleben durfte. So soll Arendt auch über eine dichterische Ader verfügt haben. Sie verehrte Dichter, aber selber wollte sie sich nicht als Dichterin präsentieren. Zeitlebens soll sie zwar Gedichte geschrieben haben, viele davon sind aber erst seit 2015 bekannt. Einige von Hannah Arendts Gedichten entstanden, als sie sich in den deutschen Philosophen Martin Heidegger verliebte. Ernüchtert und besorgt stellen wir fest, dass die Leichtigkeit des Denkens und die verbürgte Publikations-Freiheit einen hohen Preis haben.
Text, Fotos und Radiosendung: Kurt Schnidrig