Das Glishorn ist mein Hausberg. Schon als Kind schaute ich klammen Herzens zum Berg hoch, denn der Kopf des Berges ähnelt jenem eines Riesen, dessen Nase vorwitzig und hochmütig talwärts geneigt ist. Die Märchen und Sagen von Riesen, die den Menschen übel gesinnt sind und mit Felsbrocken nach ihnen werfen, haben mich buchstäblich bis ins reife Alter daran gehindert, auf meinen Hausberg hochzusteigen und dem Riesen da oben auf der Nase herumzutanzen. Immerzu fürchtete ich die Rache des Glishorn-Riesen, der das Herumgetanze auf seiner Nasenspitze womöglich mit einem Bergsturz oder einem Felsabbruch rächen könnte.
Die Besteigung des Glishorn-Riesen. Nun habe ich den Glishorn-Riesen im reifen Alter aber doch noch bestiegen, ich bin zuoberst auf seinen kahlen Schädel geklettert und ich habe auf seiner Nase herumgetanzt. Meine kindlichen Phobien, hervorgerufen wohl durch die allzu eifrige Lektüre von Sagen und Legenden über rächende Berggeister und Bergriesen, habe ich damit glücklich besiegt und ausgeräumt. Niemals hätte ich gedacht, dass sich da oben eine Bergwiese ausbreitet, worauf sogar Schafe, ohne Hirten und ohne jeglichen Schutz vor Wölfen, übersommerten.
Die tollste Überraschung allerdings behielt der Glishorn-Riese bis zuletzt für sich. Niemals hätte ich gedacht, dass die paar dünnen Gräslein oben auf dem kahlen Kopf des Riesen längst nicht den Gipfel des Abenteuers bedeuten. Wer dem Glishorn-Riesen auf der Nase herumtanzen will, der muss einen kurzen Abstieg auf dessen Nase wagen. Wagen! Denn wer mit Höhenangst zu kämpfen hat, der ist mit dem Abstieg auf des Riesen Nase hart gefordert. Falls nämlich das Nasenwasser des Riesen tropfen sollte, dann würden die Nasentropfen im Lot, also schnurgerade, dreitausend Meter hinunter tropfen, in den Bäjiwald von Glis, oder vielleicht sogar weiter bis an die Stadtgrenze von Brig-Glis.
Vom Schrecken der modernen Bergriesen. Kaum erlöst von Rache-Phobien aus Kindertagen, erfasste mich oben auf der Nase des Glishorn-Riesen erneut ein Schrecken, anders geartet allerdings als jener aus Kindertagen. Wie zerklüftet und brüchig das Gestein hier oben ist! Der Klimawandel hat wohl dazu beigetragen, dass des Riesen Kopf allmählich zerbröselt und seine Nase nicht nur tropft, sondern gleich auch stückweise deren Innenleben nach unten pustet. Ist deshalb Brig-Glis bedroht? Ich hoffe nicht. Sicherheitshalber haben wir jedoch schon mal gegenüber auf der Sonnenterrasse des Brigerbergs gebaut, bis dahin reichen die vom Glishorn-Riesen gepusteten und geschleuderten Exkremente wohl hoffentlich nicht. Berge, die wie erzürnte Riesen mit brüchigem Gestein nach den Talbewohnern schleudern, stehen mittlerweile allüberall herum. Ein Trost allerdings ist das nicht, auch wenn der „Abwärtsvergleich“ – bekannt aus der Psychologie – zur Bewältigung von Ängsten beitragen kann.
Ein Beispiel? Die Schriftstellerin Petra Hucke erzählt in ihrem Buch von einem Bündner Dorf, dessen Bewohner sich zu entscheiden haben, ob sie sich weiterhin den Bedrohungen ihres Bergmonsters aussetzen wollen, oder ob sie sich besser mit Kind und Kegel auf- und davonmachen sollen. Denn: Etwas Besseres als den Tod werden wir überall finden, so heisst es im Märchen von den Bremer Stadtmusikanten.
„Vom Gehen und Bleiben“ – so ist der Roman von Petra Hucke übertitelt. Die Geschichte, die sie erzählt, könnte sich auch am Fusse des Glishorn-Riesen abspielen. Vielleicht noch nicht jetzt, aber bestimmt später einmal. Die Autorin Petra Hucke verlegt den Schauplatz ins Bündnerland. Schauplatz ist das kleine Dörfchen Vischnanca. Das Dorf klebt an einem Berghang, und dieser rutscht jedes Jahr einen guten Meter ab, ganz genau sind es 1.20 Meter. Protagonistin im Roman ist eine Bauernfrau namens Ria. Für Ria ist der Berg über Vischnanca ein Monster, etwa so wie für mich das Glishorn über Brig-Glis ein rächender Riese ist. Auch Ria sieht im Berg über Vischnanca ein rächendes Monster, das versucht, das ganze Dorf samt Bewohnerinnen und Bewohner auszulöschen.
Lässt sich gegen die Bedrohungen ankämpfen? Weil Ria eine mutige Bäuerin ist, will sie dem Monster auf der Nase herumtanzen, sprich: sie will gegen die Bedrohungen des Berges ankämpfen. Einfach gestaltet sich dieser Kampf gegen das Monster aber nicht, denn die Evakuierung der Dorfbevölkerung hängt wie ein Damoklesschwert über Vischnanca.
Die Bevölkerung muss sich entscheiden. Das Problem dabei: Geld vom Staat gibt es nur, wenn alle, ohne Ausnahme, das Dorf verlassen. Jede und jeder muss der Abwanderung zustimmen. Die Suche nach der richtigen Entscheidung ist beschwerlich. Feindschaften entstehen, die Bewohnerinnen und Bewohner streiten darüber, ob sie bleiben oder doch besser abwandern sollen. Rias Familie wehrt sich gegen den Gedanken, ihren Hof, die Tiere, das Haus und all den fruchtbaren Boden zu verlassen und ohne Gegenwehr dem Berg-Monster in den Rachen zu werfen. Da ereignet sich zu allem Überfluss auch noch ein Unglück, das den Prozess der Entscheidungsfindung beschleunigt.
Standhaft bleiben! Komme was wolle! Ihre Heimat aufzugeben, das kommt für Ria im Roman „Vom Gehen und Bleiben“ nicht in Frage. Dafür ist sie bereit, dem Berg-Monster zu opfern. Ihre Ehe gerät ins Rutschen wie die Felsbrocken über Vischnanca. Aber wie enden doch so wundervoll viele Märchen? Wenn du glaubst, es geht nicht mehr, dann kommt von irgendwo ein Lichtlein her. Welcher Art gestaltet oder gewandet das Lichtlein daherkommt, sei hier nicht verraten. Lesen!
(Petra Hucke: Vom Gehen und Bleiben. Krüger, März 2022. 432 Seiten, Gebundene Ausgabe, ca. CHF 20.-)
Text, Bild und Radiosendung: Kurt Schnidrig