Die Schweizer Erzählnacht – seit ihrer Gründung im Oberwallis traditionell am zweiten Freitag im November – liess unser Land mit über 700 Veranstaltungen eine Nacht lang abtauchen in vielfältige, geheimnisvolle und bereichernde Anderswelten. Während Schulen in Mörel, Naters und Brig die Nacht der Nächte für ein definiertes Zielpublikum gestalteten, öffneten die Bibliotheken von Visperterminen und von Steg ihre Türen für all das geschichtenhungrige Volk jeglicher Provenienz. In Steg lud der Literatur CLUB73 gestaffelt zur Erzählnacht: Zuerst für Kinder, dann für Jugendliche und schliesslich, bis weit nach Mitternacht, für die Erwachsenen.
Mit einem Laternenumzug eröffneten die Kinder in Steg die Erzählnacht. Die dazu passende Legende vom Heiligen Martin erzählte die Katechetin Karin Guntern. Martin verwandelte sich vom Soldaten, zu dem er unfreiwillig erzogen worden war, zu einem mildtätigen und solidarischen Wohltäter für die Armen. Eine Verwandlung, die nicht nur ein Leben veränderte, sondern auch Werte wie die gelebte Solidarität in den Fokus rückte.
Mit Erzählungen von fantastischen Verwandlungen wusste Fantasy-Autorin Joanne Gattlen die Steger Jugend zu fesseln. Von Percy Jackson über Harry Potter bis zur Diamant-Serie „Rubinrot“, „Saphirblau“, „Smaragdgrün“ reichte das Spektrum, die jungen Fantasy-Fans steuerten nicht selten auch noch ihre eigenen Erfahrungen mit Fantasy-Literatur bei, mit „The Mortal Instruments“ beispielsweise oder mit „Shadow&Bone“ – Legenden der Grisha.
In „Meravella“, Joanne Gattlens Roman-Erstling, tut sich die Ich-Erzählerin Haley mit einem Begleiter zusammen, mit Dylan. Von ihrem gemeinsamen Handeln hängt das Schicksal des fiktiven Handlungsortes ab. Joanne Gattlen teilt die Begeisterung für übersinnliche Welten, so wie sie in der Phantastik des 19. Jahrhunderts gelebt wurde. Damals entstanden Volksmärchen-Sammlungen, Kunstmärchen und Bildungsromane, denen sich „Meravella“ nahtlos anschliesst. Joanne Gattlens Werk lässt sich aufgrund des Personals – realistisch handelnde Menschen in Zusammenspiel mit Feen – dem Erzählstil eines Ludwig Tieck und dessen Hauptwerk „Die Elfen“ zuordnen. Im Fantasy-Talk erklärte die Autorin, wie sie als Nanny in den USA beim Kinderhüten die Feen-Stoffe mit den ihr anvertrauten Kids zusammentrug.
In „Sacrificium“, einem historischen Fantasy-Roman von Anina Salzmann, hat die Protagonistin Amelia rein gar nichts gemeinsam mit einer Jugendlichen oder jungen Erwachsenen im Oberwallis. Wohl auch gerade deshalb eignet sich die Story auch als Verwandlungs-Geschichte. Das Abtauchen in die ferne Zeit der Antike offenbarte teils auch unbekannte Abgründe, die wir so nicht aus den Geschichtsbüchern kennen. Die junge Germanin Amelia erlebt einen Überfall auf ihr Dorf und wird nach Rom verschleppt. Dort muss sie Kämpfe in der Arena mit ansehen, in der Gefangene zur Belustigung der freien Bewohner Roms ihr Leben lassen. Die junge Germanin Amelia landet schliesslich in einem Lupanar, einem römischen Bordell.
„Die Tulpen haben aufgehört zu blühen“ – von Veränderungen und Verwandlungen im Leben, handelt die Roman-Story von Sieglinde Kuonen-Kronig. Die Autorin berichtete über Fernweh und Abgründe in einem Walliser Dorf, deren Protagonistinnen Nicole und Sophie ein vielseitiges Frauenbild unserer Tage abgeben. Obschon die beiden Frauen in gegensätzlichen Welten leben und ihre Lebensplanung völlig unterschiedlich ist, verbindet Nicole und Sophie eine enge Freundschaft. Die Autorin verwandelte sich in ihre Protagonistin Nicole, die in einem kleinen Dorf im Oberwallis aufgewachsen ist und als Journalistin in Zürich arbeitet. Nicole nimmt eine neue berufliche Herausforderung in New York wahr. Die schillernde Erzählung handelt von der Sehnsucht nach Selbstverwirklichung und von alternativen Entwicklungs-Möglichkeiten in einem zu engen Tal.
„Alles, was du bist“ – von Verwandlungen der eigenen Persönlichkeit erzählt Kurt Schnidrig in seinem Essay-Band. Hat die Pandemie der vergangenen Monate unsere Persönlichkeit verändert? Was alles steckt verborgen in uns und wartet nur darauf „entdeckt“ zu werden? Wie viel nur schon die zurzeit angesagte Gender-Diskussion an Diskussions- und Zündstoff bereithält, lässt sich am Beispiel eines männlichen Literaten festmachen, der sich in einer femininen Welt wiederfindet. Jahrelang war er Sprachdozent unter lauter Sprachdozentinnen, hat fast ausschliesslich Studentinnen unterrichtet, und dies dazu noch in den „weiblichen“ Fächern Sprache und Literatur. Und die Folgen davon? Weitwinkelperspektive statt Tunnelblick, Gefühlhaftes statt Rationales. Ein Mann gesteht: „Ich liebe Sprache, ich liebe Literatur, ich liebe grosse Gefühle, ich liebe zauberhafte Romane, ich singe in einem Chor, der faktisch nur aus Frauen besteht. Ich, das Gendersternchen.“
Mit einem „Biss zur Abendstunde“ verführten und verwandelten die beiden Fantasy-Autorinnen Joanne Gattlen und Anina Salzmann das Publikum als Vampirinnen. Und mit wundersam wohltuenden „Bissen“ in Gestalt von Züpfen, Kürbissuppen und wohlschmeckenden Häppchen, serviert vom ebenfalls wunderbaren Bibliotheks-Team, verwandelte sich das Erzählnacht-Publikum in Steg zu einer Abusitz-Runde, die erst weit nach Mitternacht aus Anderswelten auftauchte und heimische Gefilde ansteuerte.
Text, Fotos und Radiosendung: Kurt Schnidrig