Hurra, wir leben noch!

Was mussten wir während der Pandemie-Krise nicht alles übersteh’n? Der Kelch ging noch einmal an uns vorbei. (Symbolbild: Kurt Schnidrig)

Pfingsten 2021 ist ein ganz besonderer Feiertag. Viele von uns können sich glücklich schätzen, das zweite Mal geimpft und wieder in die Freiheit entlassen zu sein. Nach meinem zweiten Pieks kurz vor dem Pfingstfest schoss mir ein Lied der kürzlich verstorbenen Sängerin Milva durch den Kopf:

„Hurra, wir leben noch! / Was mussten wir nicht alles übersteh’n / Und leben noch! Was liessen wir nicht alles über uns ergeh’n? / Der blaue Fleck auf uns’rer Seele geht schon wieder weg / Wir leben noch / Gibt uns denn dies Gefühl nicht neuen Mut und Zuversicht / Der Kelch ging noch einmal an uns vorbei / Wir leben noch / Nach jeder Ebbe kommt auch eine Flut / Nach all dem Dunkel seh’n wir wieder Licht / Wir leben noch / Wir leben.“

Frei nach dem Canzone von Milva (Maria Ilva Biolcati): „Hurra, wir leben noch“.

„Hurra, wir leben noch“ ist auch der Titel eines Roman-Bestsellers von Johannes Mario Simmel aus dem Jahr 1978. Die Romansaga spielt nach dem Zweiten Weltkrieg und erzählt Ereignisse aus dem Leben des Protagonisten Jakob Formann. Dieser stammte aus ärmlichen Verhältnissen, hatte den Zweiten Weltkrieg an der Ostfront überlebt und kehrte aus der Kriegsgefangenschaft in seine österreichische Heimat zurück. Befeuert durch das wiedergewonnene Leben, gelingt ihm ein rasanter sozialer Aufstieg und er klettert in den 1950er Jahren auf der Karriere-Leiter hoch bis in schwindelnde Höhen. Jakob Formann wird zu einem der erfolgreichsten, bekanntesten und wohlhabendsten Männer des Jahrzehnts. Er gründet mehrere Unternehmen, die auf der ganzen Welt tätig sind. Auch persönlich lebt Formann auf der Überholspur. Der Selfmade-Millionär ist ein Womanizer, der ebenso viele Freunde hat wie Feinde. Hurra, wir leben noch! Allzu überheblich allerdings sollten wir nach einer Krise nicht ins neue Leben starten, auch das lehrt uns der Roman von Johannes Mario Simmel. Aufgrund einer neuen Krise und eines Komplotts gegen ihn, verliert Jakob Formann am Ende wieder sein gesamtes Vermögen. Er kehrt reumütig wieder zu der Frau zurück, die er kurz nach Kriegsende verliess um abzuheben in ein neues Leben. Der Roman endet mit den idyllischen Zeilen: „Nun lebt er mit ihr ein einfaches Leben in einem kleinen Häuschen in Grün.“

„Eine grosse Zeit erfordert grosse Menschen“. Dieses Zitat entstammt dem Vorwort von Jaroslav Haseks Erzählung Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk. Johannes Mario Simmel hat das Hasek-Zitat beinahe wörtlich in den Prolog zu seinem Roman „Hurra, wir leben noch“ übernommen:

„Die grossen Zeiten, die heldischen Zeiten brauchen grosse, heldische Menschen. Das hat uns der Lehrer in der Schule erzählt, und ich muss immer daran denken: Was für ein Unfug. Wenn Helden schon überhaupt nötig sind, dann doch bitte für kleine, schlimme, schwierige Zeiten! Denken wir nur an heute. Da gibt es nun einen Mann, und das ist so einer, wie ich ihn mir immer gewünscht habe: ein Held für schlechtes Wetter!“

Aus dem Prolog, Johannes Mario Simmel: Hurra, wir leben noch. Droemer Knaur, 1978

Dr. Daniel Koch war und ist für mich dieser „Held für schlechtes Wetter“. Für einige besser bekannt als „Mister Corona“ wurde sein Name in der Schweiz zur Marke. Mitten in der schwierigsten Zeit, als kurz vor Weihnachten die zweite Welle unheimlich Fahrt aufnahm, durfte ich mit Dr. Daniel Koch ein fast stündiges Gespräch führen. Ich habe bei dieser Gelegenheit nicht nur einen grossartigen Arzt kennengelernt, sondern auch einen gewieften Kommunikator. Vor allem aber schätze ich Dr. Daniel Koch als einen Helden, der sich nicht scheute, nach dem Staatsexamen anstatt eines gutbezahlten Jobs in einem Schweizer Spital ein gefährliches Leben als Arzt in einem Andenspital in Peru zu führen. Danach war er als Mediziner und Botschafter für das IKRK tätig, zunächst in Südamerika, dann in den Bürgerkriegen von Sierra Leone, Uganda und Ruanda und später in Südafrika. In seinem Buch „Stärke in der Krise“ erzählt er seine faszinierende Lebensgeschichte mit zahlreichen Anekdoten.

Als kurz vor Weihnachten die zweite Welle unheimlich Fahrt aufnahm, durfte ich mit Dr. Daniel Koch (links) ein fast stündiges Gespräch führen.

„Impfen ist ein Akt der Solidarität“, ansonsten würden wir die Pandemie nicht in den Griff bekommen, dies prophezeite Dr. Daniel Koch bereits vor Weihnachten. Und selbstverständlich würde er sich selbst auch impfen lassen, logisch, das sei doch nichts anderes als ein Akt der Solidarität. Wer sich zwecks Meinungsbildung in Sachbücher vertieft, der wird unschwer zum Schluss gelangen: Seit Menschengedenken haben Wissenshaft und Medizin mit Erfolg versucht, gefährlichen Mikroorganismen auf die Spur zu kommen und sie zu vernichten. Bei derartiger Lektüre werden auch Zusammenhänge sichtbar. Hätten Sie, liebe Leser*innen beispielsweise gewusst, dass Fledertiere nicht nur als Inkubatoren von Coronaviren gelten? Auch der Ebola-Ausbruch von Ende 2013 wird auf sie zurückgeführt. Vor allem aber tut gut zu wissen: Was wir in den vergangenen Monaten durchgemacht haben, ist in seiner Art keineswegs einzigartig.

„Das Jahrhundert der Pandemien“ beschreibt besonders lebendig, anschaulich und leicht verständlich der britische Medizinhistoriker Mark Honigsbaum. Sein Werk ist soeben auch auf Deutsch herausgekommen. Es widmet sich den schlimmsten Krankheiten, welche die Menschheit in den vergangenen hundert Jahren heimgesucht haben. Da waren beispielsweise die Spanische Grippe, die Legionärskrankheit, Aids, Sars und Ebola bis hin zu Covid-19. Nach einer schier unglaublichen Recherchier-Arbeit von 10 Jahren analysiert der Autor mit grossartiger Tiefenschärfe gleichsam spannend wie erhellend. Das Sachbuch von Mark Honigsbaum ist im besten Sinne ein „Page-Turner“ und gehört eigentlich in jede Hausbibliothek, für alle Fälle, bei denen Menschen an Impfungen und deren befreiender Wirkung zweifeln. Das Auftreten von Krankheiten lässt sich – gemäss Honigsbaum – nicht selten zurückführen auf Störungen des ökologischen Gleichgewichts oder Veränderungen der Umwelt. Ein Beispiel: Wenn Habitate von Fledermaus-Populationen zerstört werden und diese gezwungen sind, sich in Menschennähe anzusiedeln, erhöht sich auch das Risiko des sogenannten „spillover“, der Ansteckung mit Krankheitserregern. (Mark Honigsbaum: Das Jahrhundert der Pandemien. Piper 2021. 480 Seiten, um Fr. 37.-)

Helden“ sind heutzutage jene Wissenschafter, die in kürzester Zeit alles Wissen aus hundert Jahren Medizingeschichte abrufen und umsetzen können. Helden sind auch jene nach aussen kaum sichtbaren Laborant*innen, die es schaffen, fussend auf grauer Theorie funktionierende Impfstoffe zu kreieren. Helden sind aber auch jene Ärztinnen und Ärzte, die uns mit Überzeugung und unter Berücksichtigung des persönlichen Gesundheits-Zustands die Vaccine spritzen und uns damit jene Lebenslust zurückgeben, die uns über Monate versagt war. Hurra, wir leben noch. Simmels Helden hatten etwas James-Bond-haftes. Simmel schrieb sinnliche Dramen um Liebe, Sex, Eroberungen, steile Aufstiege mit tiefem Fall. Es ist an uns, die neu gewonnene Freiheit gewinnbringend auszuleben. Die unvergleichliche Milva sang: „Hurra, wir leben noch! Nach jeder Ebbe kommt auch eine Flut.“

Text und Fotos: Kurt Schnidrig