Am 11. November wird der Schweizer Buchpreis verliehen. Mit dem Schweizer Buchpreis zeichnet der Schweizer Buchhändler- und Verleger-Verband SBVV jährlich das beste erzählerische oder essayistische deutschsprachige Werk aus. Schweizer Autorinnen und Autoren können sich über ihren Buchverlag bewerben. Preisberechtigt sind auch Literaten, die seit mindestens zwei Jahren in der Schweiz leben. Ziel des Schweizer Buchpreises ist es, jährlich fünf herausragenden Büchern grösstmögliche Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit zu verschaffen, und sie in der Schweiz und über die Landesgrenzen hinaus einem breiten Lesepublikum wie auch der internationalen Buchbranche bekannt zu machen. So steht es geschrieben im Reglement des Schweizer Buchpreises (SBP).
Fünf Jurymitglieder bestimmen eine Shortlist. Die Shortlist umfasst fünf Werke. Kurz vor der Preisverleihung kürt die Jury daraus die Preisträgerin oder den Preisträger. Der Schweizer Buchpreis ist insgesamt mit 42’000 Franken dotiert. Die Preisträgerin bzw. der Preisträger erhält 30’000 Franken sowie eine Urkunde; die übrigen Autorinnen und Autoren der Shortlist erhalten je 3’000 Franken. Der Preisträger / die Preisträgerin wird anlässlich der Preisverleihung bekannt gegeben. Folgende Autorinnen und Autoren haben es dieses Jahr auf die Shortlist geschafft: Peter Stamm, Gianna Molinari, Vincenco Todisco, Heinz Helle und Julia von Lucadou.
Meine persönliche Einschätzung. Nachfolgend habe ich eine persönliche Einschätzung der fünf Werke vorgenommen. Ich habe versucht, die fünf Werke zu bewerten, zu rezensieren und zu rangieren. Um es gleich vorwegzunehmen: Eigentlich bin ich überzeugt, dass die Jurymitglieder auch dieses Jahr wieder einen Preisträger ermitteln werden, mit dem niemand gerechnet hat. Mit Literaturpreisen ist das nämlich so eine Sache. Sehr oft zählt nicht bloss der Text als einziges Kriterium. Gesellschaftspolitische Überlegungen sowie spezifische Besonderheiten seitens der Verlage und der Autoren spielen erfahrungsgemäss eine ebenso wichtige Rolle. Meine persönliche Einschätzung stützt sich einzig auf die textliche Quelle.
Julia von Lucadou – Die Hochhausspringerin: Der Roman erzählt von einer Zukunft, in der die totale Überwachung der Bürgerinnen und Bürger zur Realität geworden ist. Partnerschaften werden durch Algorithmen bestimmt. Kinder werden in zentralen Schulen gezüchtet. Persönliche Gefühle sind verboten. Jeder Sexualkontakt wird erfasst, ausgewertet und sanktioniert. Das ist ein gut geschriebenes Buch, provokativ, aber zu unwahrscheinlich als Ganzes. Der 1948 erschienene Klassiker „1984“ von George Orwell, der als Dystopie die düstere Vision eines totalitären Überwachungsstaates schildert, ist einzig und original. Daran kann auch „Die Hochhausspringerin“ nichts ändern. Meine Prognose: Platz 5.
Heinz Helle – Die Überwindung der Schwerkraft: Zwei Brüder ziehen in München von Kneipe zu Kneipe. Sie können nicht ahnen, das dies ihre letzte Begegnung ist. Der ältere Bruder wird sterben. Er ist ein Historiker, spezialisiert auf den Zweiten Weltkrieg. Privates und Politisches vermischen sich im Roman. Das ist eine Familiengeschichte, sorgfältig recherchiert, mit viel Gefühl geschrieben. Dem Leser wird jedoch kaum eine Möglichkeit zur Identifikation mit den Protagonisten zugestanden. Die Story berührt deshalb wenig. Meine Prognose: Platz 4.
Vincenco Todisco – Das Eidechsenkind: Protagonist in diesem Roman ist ein Kind von illegalen Einwanderern. Das Kind dürfte sich eigentlich gar nicht in der Schweiz aufhalten. So lernt das Kind vor allem, sich zu verstecken. Es verkriecht sich wie eine Eidechse. Niemand soll und darf von der Existenz des Eidechsenkinds erfahren. Der Roman widerspiegelt gut nachvollziehbar die Not und die Stimmungslage von Einwanderern hier bei uns. Meine Prognose: Platz 3.
Gianna Molinari – Hier ist noch alles möglich: Eine junge Frau übt den Job einer Nachtwächterin aus. Auf ihren nächtlichen Touren stösst ihr viel Verrücktes und Unerwartetes zu. Dass ein Wolf auf dem Gelände sein Unwesen treibt, ist dabei noch alltägliche Realität. Als aber ein Flüchtling aus einem Flugzeug herab aufs Dach eines Gebäudes fällt, hält mit diesem Ereignis auch das Angstvolle und Unwahrscheinliche seinen Einzug in die Story. Tatsächlich, hier ist noch alles möglich. Auch in der Literatur ist alles möglich. Meine Prognose: Platz 2.
Peter Stamm – Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt: Ein 50-jähriger Mann erzählt einer jungen Frau eine seltsame Geschichte. Bald einmal realisiert die Frau, dass der Mann ihr ihre eigene Geschichte erzählt. Der Erzähler scheint bereits alles über die junge Frau zu wissen. Kann der ältere Mann in die Zukunft blicken? Das ist ein brillanter Roman von Peter Stamm. Es ist dies gleichzeitig eine raffinierte Doppelgängergeschichte. Gibt es tatsächlich so etwas wie „Schicksal“? Oder sind wir alle bloss den Zufällen des Lebens ausgeliefert? Ja, das ist ein verspielter Roman, eine starke Geschichte. Meine Prognose: Platz 1.
Mein persönlicher Favorit? Persönlich hätte ich den Buchpreis 2018 gerne an Milena Moser überreicht für ihren Roman „Land der Söhne“. Leider hat sie es nicht auf die Shortlist geschafft. Warum auch immer. Ich habe Milena Moser kürzlich im Bahnhof Brig getroffen. Wir haben einen Kaffee zusammen getrunken. Sie ist genauso faszinierend wie ihr Amerika-Roman. Und sie hat eine unglaublich spannende Entwicklung als Autorin durchlebt. Ich habe ihr einen besonderen Blog-Eintrag gewidmet (Blog vom 14.09.2018).
Text und Fotos: Kurt Schnidrig.
Cover: Die Hochhausspringerin: www.hanser-literaturverlage.de; Die Überwindung der Schwerkraft: www.suhrkamp.de; Das Eidechsenkind: www.rotpunktverlag.ch; Hier ist noch alles möglich: www.aufbau-verlag.de; Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt: www.fischerverlage.de