Literatur ist stärker als Politik, nur sie kann mit ihren Werken historische Tabu-Phasen aufbrechen und aus allen Perspektiven darstellen, davon spricht die Autorin aus Prag, sie, die nicht geradestehen kann für Vieles, was weltweit und insbesondere in Osteuropa schief gelaufen ist. Radka Denemarkovà klagt an, dass viele Menschen heute Begriffen wie Humanismus, Menschenrechten und Demokratie keine Bedeutung mehr zumessen würden. Sie kämpft aber nicht nur für Werte und Inhalte, sie prangert auch den verantwortungslosen Umgang mit der Sprache in den sozialen Medien an.
Eine Landsfrau von Rilke. Arnold Steiner hob in seiner Ansprache die gemeinsame Herkunft der Preisträgerin mit einem anderen grossen Dichter hervor, der ebenfalls aus Prag stammte und im Wallis gewohnt und geschrieben hatte, mit Rainer Maria Rilke. Radka Denemarkovà werde nun im Schloss Leuk arbeiten und schreiben, so wie dies Rainer Maria Rilke bis 1926 im Schloss Muzot ob Siders getan hatte. Schloss Leuk und Schloss Prag würden beide auch von düsteren Zeiten zeugen. Auf der Wiese vor dem Schloss Leuk seien in früherer Zeit Frauen als Hexen verbrannt worden, und das Volk sei es gewesen, das die Frauen angeklagt und auf den Scheiterhaufen gezwungen habe, berichtete Steiner. Mit den tragischen Ereignissen aus der Geschichte thematisierte Arnold Steiner zugleich auch den Kampf, den die Schriftstellerin Denemarkovà gegen Gewalt und für eine rechtliche Besserstellung der Frau in ihren Werken führt, zuletzt im Roman „Ein Beitrag zur Geschichte der Freude“. Muss und darf man „Wörter mit der Peitsche malträtieren“? Steiner wünschte der Schriftstellerin einen vollen „Spycher“, voll mit Worten, die so vieles bewirken und auslösen können. Der Vorrat an Wörtern möge der Preisträgerin nie ausgehen, so wie das in der Luft getrocknete Trockenfleisch im Walliser Spycher. Es sei überlebenswichtig, die richtigen Worte zur richtigen Zeit zu finden. „Das Echo verstummt in den Bergen nur dann, wenn niemand ruft“, fasste Arnold Steiner treffend zusammen.
Mehr Preisträgerinnen, bitte! Staatsrätin Esther Waeber-Kalbermatten bezeichnete den Spycher-Literaturpreis als einen „wechselseitigen Preis“, und sie meint damit, dass ein Austausch von Geschichten und von Erlebnissen, von Natur und Landschaften immer auch auf Gegenseitigkeit beruhe. Besonders freue sie sich darüber, dass mit Radka Denemarkovà auch wieder einmal eine Frau mit dem Spycher-Literaturpreis geehrt werde. Sie habe den Roman „Ein Beitrag zur Geschichte der Freude“ bereits zu lesen begonnen, es sei dies eine Geschichte, die sie zu fesseln vermöge. Die prägnanten Sätze und auch die von der Autorin veranlassten Einschübe würden sie berühren. Dem Thema „Gewalt gegen Frauen“ komme eine immense Bedeutung zu. Die Staatsrätin erinnerte daran, dass in der Schweiz jährlich mehr als zwanzig Frauen ermordet werden. Die Frauenfiguren in Denemarkovàs Roman seien nicht einfache Frauen, es seien „durchtriebene Frauen“. Als hervorragendes Symbol in Denemarkovàs Werk hob Staatsrätin Waeber-Kalbermatten die Schwalbe hervor. Sie zog das Leukerfeld als Parallele heran, dort, im Biotop und Naturreservat, lebe der Bienenfresser. Der Bienenfresser, ein schillernd bunter Vogel, der aber auch auf Beute aus sei. Das Vorbildliche an diesen Vögeln sei, dass sie sich partnerschaftlich in der Brutpflege teilen, meinte die Staatsrätin.
Thomas Geiger, der Jurypräsident, erläuterte, dass die Jury mit der Schriftstellerin Radka Denemarkovà eine der gegenwärtig provokantesten Schriftstellerinnen für den Spycher-Literaturpreis auserkoren habe. Insbesondere das immens wichtige Thema „Gewalt gegen Frauen“ verarbeite die Autorin „sprachmächtig und mit Metaphern verspielt“, begründete der Jury-Präsident. Die Geehrte sei eine „Reisende zwischen den Disziplinen“. Sie könne „das beste Sachbuch“ und „die beste Übersetzung“ ihr eigen nennen, zurecht habe sie dafür bereits den tschechischen Magnesia-Litera-Preis erhalten. „Die Literatur als Ganzes ist ein Archiv, und es besteht die Hoffnung, dass manches uns an das erinnert, was geschehen ist“, beschloss Geiger seine Überlegungen zum Jury-Entscheid.
Eine gehaltvolle Laudatio. Als Laudatorin trat Katrin Schumacher vors Mikrofon. Das Wirken und das Schaffen der Geehrten fasste die Laudatorin wundervoll und zauberhaft zusammen mit Sentenzen wie dieser: „Wir haben kein Gedächtnis, wir sind das Gedächtnis.“ Damit sprach sie auch Denemarkovàs Roman „Ein Beitrag zur Geschichte der Freude“ an, er sei schwer zu ertragen, Romane wie dieser würden „in den Körper hinein gehen“. Denemarkovàs Texte würden schmerzen, sie seien ein Gesellschaftspanorama, das schlecht verheilte Wunden aus der Geschichte offenbare. Die deutsche und die tschechische Seite seien darin verstrickt. Viele hätten heute eine Abneigung gegen die Wahrheit. „Die tschechische Gesellschaft ist krank, und sie weigert sich, sich behandeln zu lassen“, rief die Laudatorin aus. In dieser Situation funktioniere die Literatur als „geladene und vorgehaltene Waffe.“
Von der Freiheit, das eigene Leben zu leben. In ihrer Dankesrede betonte die Preisträgerin, Schriftstellerinnen sollten nicht den Leuten nach dem Munde reden. Konflikte zwischen verschiedenen Lebenskonzepten werde es immer geben. Die Freiheit, sein eigenes Leben zu leben, müsse zu allen Zeiten hochgehalten werden. „Mich interessiert das einzelne menschliche Schicksal“, betonte Denemarkovà. Die Literatur sei eine Erinnern an das eigene Ich, und das sei immer auch ein Risiko. Geschichte könne in verschiedensten Situationen erzählt werden, schwieriger aber sei es, die eigene Geschichte zu erzählen. „Danke, dass Sie sich nicht scheuen, dieses Risiko einzugehen“, beschloss sie ihre Dankesrede.
In Leuk einen grossen Roman schreiben! Hier in Leuk einen grossen Roman zu schreiben, das sei ihr fester Vorsatz, verriet mir Radka Denemarkovà vor der imposanten Kulisse des Leuker Schlosses. Der Roman werde zwei parallele Geschichten umfassen, die eine Geschichte werde sich im 19. Jahrhundert abspielen und die andere zweihundert Jahre später, in der Gegenwart also. Die Geschichten von Menschen aus verschiedenen Ländern würden diesen „Leuker Roman“ bevölkern. Bei diesen Worten legte die Schriftstellerin eine Hand aufs Herz. Für Radka Denemarkovà ist das Schreiben eine Herzensangelegenheit.
Text und Fotos: Kurt Schnidrig