Ein Blatt aus sommerlichen Tagen, ich nahm es so im Wandern mit, auf dass es einst mir möge sagen, wie laut die Nachtigall geschlagen, wie grün der Wald, den ich durchschritt. Diese Zeilen stammen vom norddeutschen Dichter Theodor Storm. Sie geben die Gestimmtheit wieder, die in dieser letzten Oktoberwoche die Dichter und Schriftsteller umfängt. Die Natur bereitet sich auf die Kälte langer Winternächte vor. Bald schon hüllen wir uns in dicke Mäntel. Die fröhlichen Worte des Sommers verstummen. Die Dichter des Herbstes erfüllen sie mit Melancholie, mit Sentimentalität, mit Wehmut. Die nachfolgenden Texte entstammen meinem neu überarbeiteten Lyrikband „Wortverkleidung“.
Herbstliches Requiem. Auf herbstlichen Wegen ertrinken des Sommers ins Haar geflochtene Veilchengebinde. / Welten verloren und verwunschen an den Abend, / verhangen von Schichten überraschender Gesichter / gehauen aus Fels und beschlossen in granitener Kluft / turmhoch drohende Klangwände / eines herbstlichen Requiems / wenn Laute wie Melodien den Raum durchstreifen / durchbrechen wabernd dräuende Wolken / ein Lächeln schwimmt sich frei / aus hartgebacknenem Erdenwerk / ein messinghell gleissender Lebenslaut. (Kurt Schnidrig)
Gereiht auf Perlenschnur. Manchmal geschieht es / da nieseln nieder zerstäubende Sterne auf weiche Wolkendecke / erspähen zerfliessend kristallenes Licht hinter fremden Augen und Gesichtern / und viel blauer Himmel tut sich auf, spannt sich über stillgewordene Landschaft / und nichts zerreisst die Stille / und der Puls der Erde hört auf zu schlagen / und von den Wörtern, gereiht wie herbstliche Beeren auf Perlenschnur, / fällt eins herunter zur rechten Zeit / ein zerstäubender Stern auf weicher Wolkendecke / halt ihn fest, denn es geschieht nur manchmal. (Kurt Schnidrig)
Sommerliche Worte zurückgelassen. Worte zurückgelassen bei verebbender Flut als blossliegendes Muschelwerk im weissen Sand / umgezogen in polarisch verhangene Eispaläste / sind auf der Fahrt zu beflügelnden Adelhorsten entlegener Phantasien / kreisen wie Irrlichter betäubend aus Zentrifugen geschleudert / himmelwärts sich schraubend der Sonne entgegen / breiten tröstliche Schwingen aus als wiedergefundene Worte. (Kurt Schnidrig)
Rote Sommerliebe. Eingepackt und eingekleidet in süsslich-rote Töne der Zigeunerbraut / in kostümhaft glitzernde Schleier der Schlangentänzerin / in nietenbeschlagen eingeschnürtes Wams des Feuerspeiers / sind Äpfel wie Worte / perlend von rötlich-reifen Bäumen geschüttelt / eingeschlossen in Kristallstufen zur Schau gestellt / flackernd in behäbig baumelnde Windlichter gesetzt / bitter aus herbstlichen Apfelschalen lugend / arktisch erstarrt wie vergängliche Eisblumen triefend / eingelullt zerbrechlich im Glasschrein zu tausendjährigem Schlaf / erwartend den Prinzen der freiküsst. (Kurt Schnidrig)
Herbstliche Gebrauchsanweisung. Lebendige Worte sorgsam behängen mit buntklecksigen Kinderluftballons / dann schwerelos aufsteigen lassen zu nebeldunstigen Ufern / zerrieselnde Sandburgen bauen und rettende Türme aus Elfenbein, voll von ziselierten Träumen / aufgewunden in kurzatmigen Gedankenhäusern / darin wohnen für Augenblicke / dann wachrütteln die ziselierten Träume / und hoffen auf die Ankunft lebendiger Worte. (Kurt Schnidrig)
Sich sonnen zwischen Blättern. Das Wort umkreist in vierundzwanzig Reisen / zwölfmal am Tage und zwölfmal des Nachts / behängender Schleier von glitzerndem Tand / Worte als glückhafte Sternschnuppe in einem Roulette / Laut der sich freischwimmt aus herbstbraunem Licht: / Geh in die Füsse und schreib deine Spur / sich wegstehlend auf Pfaden mit Bänklein bestückt / ausruhen in sommerlichen Geschichten von Eswareinmal / und denken an Worte, die sich sonnen zwischen Blättern / eingewoben in buntscheckigem Alltagsteppich / Blätter des Baumes und Blätter des Buches / als Teil, der Wärme ist. (Kurt Schnidrig)
Neues aus strohigen Hülsen aufgären lassen. Worthülsen bersten wie Kastanienschalen / schmecken bitter und sind stachelig zudem / weihrauchverströmende Kastanienhaine verwandeln sich / in ruinenhafte Kulissen eines gespenstischen Hexensabbats / Wortfetzen peitschen klatschend an Kalkmauern und liegen ungeschützt / verlorene Laute einer sommerlichen Fee zerfallen zu Staub / letzter warmer Regen webt gütig knüpfende Fäden / und schwemmt Wortkostüme an aus Sternenstaub / zum Einkleiden von neuen Kobolden und Elfen / die den warmen Südwind mit Zauberstab in ihr Reich befehlen / und die taufrischen Lenzmorgen aus strohigen Hülsen aufgären lassen / milde Süsse aus weissem Licht. (Kurt Schnidrig)
Texte und Fotos: Kurt Schnidrig