Die Reise nach Basel zur Verleihung des Schweizer Buchpreises hat sich für mich gelohnt. Dies vor allem wegen der vielen literarischen Freundschaften, die ich knüpfen konnte. Das Wochenende in Basel bot mir aber auch die Gelegenheit, mit fünf der besten Schreibenden dieses Landes zusammenzusitzen, zu fachsimpeln, ihre Botschaften zu vernehmen und mich mit ihnen auszutauschen. Selbstredend war das Augenmerk der Medienwelt auf Sibylle Berg gerichtet. Sie galt als der Shootingstar der Medien, konnte sich aber des Gewinns des Schweizer Buchpreises nicht sicher sein. Zwar habe auch ich fürs Radio das Gewinner-Porträt von Sibylle Berg bereits am Freitag im Studio aufgenommen, damit es unser Lokalsender am Sonntagabend senden konnte. Aber, ehrlich gesagt, schlug mein Herz nicht nur für „Frau Berg“ wie sie gern genannt werden möchte, sondern auch noch für eine andere Kandidatin, was aber nicht heissen soll, dass ich Frau Berg die Lorbeeren nicht gegönnt hätte. Bereits am Vortag der Preisverleihung, am Samstag, präsentierte sie sich im Basler Volkshaus einem grossen Publikum.
GRM. Brainfuck. In Sibylle Bergs Roman „GRM. Brainfuck“ geht es um unsere nahe Zukunft. Allerdings schaut Frau Berg mit ganz viel pessimistischer Phantasie in die Zukunft. Der Schauplatz ihres Buches ist England, insbesondere London und Rochdale. Von hier aus orakelt sie, was so alles auf uns zukommen könnte: Der Brexit ist vollzogen, die englische Wirtschaft ist in der Hand von chinesischen Firmen, Polizei und Militär sind privatisiert, über der Stadt kreist ein Gewimmel von Drohnen und der Premierminister ist so eine Art grinsender Avatar. Die Regierung ist manipuliert von der IT-Mafia, sie beschliesst ein Mindesteinkommen für alle Bürger, die bereit sind, sich einen Chip mit sämtlichen persönlich-medizinischen Daten einpflanzen zu lassen. Als Leser darf man sich die Frage stellen: Wie weit weg von der Realität sind denn Sibylle Bergs Prophezeiungen? Für Frau Berg gibt es realistische Umsetzungen ihrer pessimistischen Prognosen längst auch schon bei uns in der Schweiz. Im vergangenen Jahr haben die Schweizerinnen und Schweizer ein Gesetz zur detektivischen Überwachung von Sozialversicherten angenommen – für Frau Berg schon Grund genug, ein Aktionsbündnis auf die Beine zu stellen. So gesehen liegt ihrem Roman eine Idee zugrunde, die nur ein klein wenig zu radikal ausgefallen ist. Ob diese radikale Romanidee jedoch ausreichen würde, um den Schweizer Buchpreis zu erringen? Die Spannung am Sonntagmorgen war bei den Kandidatinnen genau so gross wie beim zahlreich erschienenen Publikum im Theater Basel.
Jury-Sprecher Manfred Papst trat vors Publikum und berichtete von der immensen Arbeit, welche die Jury geleistet habe: Aus den vielen von Verlagen eingesandten Büchern hätte man nach intensiver Sichtung und Diskussion eine Shortlist mit fünf Büchern zusammengestellt. Bei dieser Arbeit sei ihm bewusst geworden, wie breitgefächert und wie gut aufgestellt die Schweizer Literatur sich präsentiere. Die Texte seien professioneller geworden, was den Literatur-Instituten zu verdanken sei, die immer wieder erfrischende neue Stimmen hervorbringen würden. Vier Frauen und nur ein einziger Mann hatten es auf die Shortlist geschafft. Das war allseits kritiklos zur Kenntnis genommen worden. Manfred Papst dazu: „Umgekehrt hätte es Schelte gegeben!“ Der Jury-Sprecher beschwor die Unbefangenheit der Jury: „Es geht nur um das Werk, ob die Autorenschaft nun männlich oder weiblich ist, das ist wie die Frage ob katholisch oder vegetarisch.“ Drei Kriterien seien für die Jury entscheidend: 1. Das Buch muss eine eigene, individuelle Handschrift aufweisen. 2. Welthaltigkeit. 3. Dringlichkeit. Die fünf Nominierten wurden anschliessend von jeweils einem Laudator für den Buchpreis vorgeschlagen.
Die Laudatio auf Sibylle Berg. In ihrem Buch würde uns die Autorin in die Welt der künstlichen Intelligenz entführen, begann Christine Richard ihre Laudatio auf Sibylle Berg. Sie prophezeie eine apokalyptische Zukunft. Junge Menschen aus kaputten Familien habe sie zu Protagonisten ihres Romans auserkoren. „Dabei schmiert Frau Berg nichts mit Mitleid zu“, sagte die Laudatorin, „das Mitleid soll nämlich von den Lesern kommen.“ Sibylle Bergs Werk sei „böse“, es zeige, wie weit es mit uns noch kommen könnte. Der Buchtitel „Brainfuck“ sei einer Computersprache entnommen, die im Jahr 1993 erfunden worden sei. Sibylle sei eine Prophetin in der antiken Sage gewesen, und nun habe Sibylle Berg diesem Namen viel Ehre bereitet.
Die Begründung der Jury. „Mit sarkastischem Ingrimm begleitet sie vier Londoner Jugendliche aus kaputten Verhältnissen durch die Horror-Szenarien einer deregulierten Gesellschaft. Sie begleitet sie in die Zukunft, in die Diktatur der künstlichen Intelligenz. Dem entfesselten Kapitalismus setzt die Autorin entfesselte Phantasie entgegen, eine kompromisslose Gesellschaftskritik in hochexplosiver Sprache mit Sprengsätzen und mit bösem Witz“.
„Nicht gewinnen fühlt sich scheisse an“. Mit diesem Gassenhauer-Satz richtete sich Preisträgerin Sibylle Berg an ihre Mitnominierten Tabea Steiner, Simone Lappert, Ivna Zic und Alain Claude Sulzer. Es sind solche Sätze von Sibylle Berg, die mich und auch andere Literaturschaffende verunsichern. Muss das sein, Frau Berg? Gestatten Sie mir, liebe Leserin, lieber Leser, eine persönliche Einschätzung. Sibylle Berg spielt sich auf als die Diva der deutschsprachigen Literatur. Sie ist „Frau Berg“, und Frau Berg ist eine Liga für sich. Von ihrer Fangemeinde wird sie kultisch verehrt, doch für das, was sie ätzend-scharf schreibt, ist der Begriff „Kulturpessimismus“ angebracht. Frau Berg vermag apokalyptisch hart zu schreiben. Wie ein grimmiges Orakel posaunt sie ihre Horror-Zukunftsgeschichten von der beschaulichen Schweiz in die weite Welt hinaus.
Herzliche Gratulation. Bestimmt weisen Sibylle Bergs Werke eine eigene und unverkennbare Handschrift auf. Bestimmt sind sie welthaltig und vielleicht sogar dringlich. Woran aber mag es liegen, dass ihr preisgekröntes Werk „GRM.Brainfuck“ kaum jemand zu Ende lesen möchte? Wir alle gönnen der vielseitigen und ausdrucksstarken Literatin den Erfolg. Für nicht wenige aber hätte eine andere Autorin den Schweizer Buchpreis mindestens ebenso verdient gehabt. Doch davon nicht heute Sonntagabend. Wir alle beglückwünschen die vielseitige Preisträgerin und gönnen ihr den neuerlichen Erfolg. Herzliche Gratulation, Frau Berg!
Text und Fotos: Kurt Schnidrig