Für Aussenstehende war es eine literarische Sensation, für Insider nachvollziehbar. Wie schafft man es mit einem Debütroman schnurstracks auf die Shortlist des Schweizer Buchpreises? Entweder ist das Buch so grossartig oder die Autorin ist literarisch ausgezeichnet vernetzt. Für Tabea Steiner trifft beides zu. Als studierte Germanistin und Historikerin verfügt sie über eine tragende Basis für ihr literarisches Schaffen als Autorin. Fast genau so wichtig ist aber wohl Tabea Steiners grandiose Vernetzung als Veranstalterin von literarischen Anlässen. Sie hat das Thuner Literaturfestival initiiert, ist Mitorganisatorin des Berner Lesefestes „Aprillen“ und Mitglied der Jury der Schweizer Literaturpreise. All dies trug wohl dazu bei, dass sie im Jahr 2019 als Stipendiatin in Berlin sich voll und ganz dem Schreiben widmen konnte. Als Mitglied einer feministischen Autorinnengruppe darf sie überdies wohl auch auf breite Unterstützung der Leserinnen in unserem Land bauen, und die sind ja bekanntlich in der Mehrheit.
Wie geht man mit einem „Balg“ um? Tabea Steiners Roman trägt den Titel „Balg“, und „Balg“ ist ein Schimpfwort. Im Aberglauben des europäischen Mittelalters handelt es sich um einen Säugling, der einer Wöchnerin durch ein dämonisches Wesen im Austausch gegen ihr eigenes Kind mit der Absicht untergeschoben wurde, die Menschen zu belästigen und ihnen zu schaden. Im Roman „Balg“ geht es um ein Kind, das verhaltensauffällig ist, ein freches Kind eben. Das Kind heisst Timon, und Timon schreit sich durch sein noch junges Leben. Timon ist ein kleiner Junge, der beisst und schlägt. Mit Timon kommt niemand klar, weder seine Eltern Antonia und Chris, noch später die pädagogischen Fachkräfte in der Schule. Seine Mutter weiss sich kaum mehr zu helfen und sperrt den Kleinen ein, um wenigstens zeitweise zu Atem zu kommen. Doch als Leser ist man spätestens jetzt gewarnt: Das alles artet aus zu einer tragischen Geschichte eines verkorksten Lebens.
Ausgebootet und ausgeschlossen. Was soll man nur tun mit einem Kind, mit dem niemand umgehen kann? Was nur lässt sich mit einem frechen und widerspenstigen Balg anfangen? Mutter Antonia lernt einen neuen Mann kennen, der aber mit dem aufmüpfigen Balg nichts zu schaffen haben will. Das Kind verliert damit die letzte Möglichkeit, sich anzulehnen und elterliche Liebe zu empfangen. Da freundet sich Timon ausgerechnet mit einem alt gewordenen Sonderling an, den man im Dorf wie einen Aussenseiter und Ausgestossenen behandelt. Und so entgleitet Timon allen. Zum Schluss sind alle irgendwie Opfer, alle sind einsam, allein gelassen und verloren.
Warum geht ihr nicht alle auf die Strasse?, fragt Tabea Steiner unvermittelt ihr Publikum. Warum macht ihr euch nicht stark für die vielen verwahrlosten Kinder in unserem Land? Der Skandal: In der Schweiz dürfen Krankenkassen Listen erstellen von Eltern, die nicht bezahlen können, das bedeutet dann, dass die Ärzte die Kinder von zahlungsunfähigen Eltern nicht behandeln müssen. Was Tabea Steiner im moderierten Gespräch klar und deutlich formuliert, findet sich aber so nicht in ihrem Roman. „Balg“ ist ein sachlicher Themenroman, der die Problematik nicht offen anspricht. Die Reflexionen zu den beschriebenen Szenen müssen die Leserinnen und Leser schon selber anstellen.
Eine interessante Schnitt-Technik. Tabea Steiners Roman „Balg“ verfügt über eine originelle Schnitt-Technik. Der Roman ist also nicht in Kapitel eingeteilt, wie wir das gewohnt sind. Da sind nur Leerzeilen, danach folgt ein thematischer Schnitt, so ein Schnitt kann ein Schauplatzwechsel sein oder auch ein Figurenwechsel. So reiht denn die Autorin lauter Szenen der Verwahrlosung aneinander und erreicht so eine thematische Eindringlichkeit, die den Leser nicht zur Ruhe kommen lässt. Wer sich längere Zeit in dieses Buch vertieft, dem stellen sich immer mehr unbeantwortete Fragen. Wieso handeln Menschen oft gegen die eigenen Interessen?
Figuren ohne Innensicht. Was auffällt: In „Balg“ finden sich nur Figuren ohne Innerlichkeit. Als Leser erhält man bloss Zugang zu den Figuren durch Erschliessen. So wirken die Figuren wie Schablonen, in die auch noch viele von uns allen aus dem realen Leben hineinpassen. Die Autorin eröffnet mit diesem Kunstgriff der Leserin und dem Leser eigene Möglichkeiten zur persönlichen Identifikation. Kaum je werden Probleme, Themen oder Beobachtungen direkt angesprochen. Besonders tückisch: Als Leser wird uns viel versprochen, die Versprechen werden aber nicht eingelöst. Die Autorin hat es offensichtlich bewusst verpasst, die sehr aktuellen und emotional berührenden Themen auszubreiten oder gar auszuschlachten.
Wie weiter? Nach der Begegnung mit Autorin Tabea Steiner fallen mir Bertolt Brechts Worte zum epischen Theater ein: Der Vorhang zu und alle Fragen offen! In „Balg“ überrascht die Autorin mit einem offenen Schluss. Es ist zwar keinesfalls so, dass der Schluss abrupt und unvermittelt die Geschichte des kleinen Timon beenden würde. Die Autorin hat sogar eine leise Spur von Hoffnung gelegt. Doch eine Lösung gibt es nicht, die darf es nicht geben, nicht bei dieser Problematik. Die Figuren mutieren allesamt zu Opfern der Umstände und der Umwelt, und als solche entlässt sie die Autorin ins Leben. Tröstlich für alle Tabea-Steiner-Fans: Demnächst will sie ihren Zweitling erscheinen lassen, es soll eine Liebesgeschichte werden, und diesmal bestimmt mit einem Happy End – versprochen!
Text und Fotos: Kurt Schnidrig